Der 9. November – Geschichte spüren, Verantwortung tragen

Titelbild der Raawiausgabe 11/2025
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Es gibt Daten, die sich in die Erinnerung einbrennen, auch wenn man sie nicht erlebt hat. Für Jüdinnen und Juden in Deutschland ist der 9. November ein solcher Tag. Er trägt die Widersprüche unserer Geschichte in sich: Freiheit und Unterdrückung, Hoffnung und Gewalt, Aufbruch und Zerstörung. Ich spüre ihn, wenn ich an die brennenden Synagogen denke, aber auch, wenn ich Menschen auf den Straßen Berlins sehe, die Jahrzehnte später jubelnd die Mauer überwinden.

Schon 1848 war der 9. November ein Tag der Hoffnung und des Verrats zugleich.

Robert Blum wurde erschossen, weil er für Freiheit, Mitbestimmung und Men-schenrechte eintrat. Sein Tod zeigt, wie früh Versuche, eine demokratische Ge-sellschaft aufzubauen, brutal unterdrückt wurden. Und er erinnert mich daran, dass Demokratie nie selbst-verständlich ist – weder damals noch heute.

1918 endete das Kaiserreich, die Weimarer Republik begann. Für kurze Zeit schien Freiheit greifbar, die Möglichkeit einer Ge-sellschaft, die auf Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit basiert. Doch nur fünf Jahre später sollten die Saaten von Hass und Propaganda aufgehen, die in der Katastrophe der Pogrome von 1938 gipfelten.

Die Reichspogromnacht ist das dunkelste Kapitel des 9. November. Als Synagogen brannten, Geschäfte geplün-dert und Menschen miss-handelt wurden, war das nicht nur Gewalt – es war ein staatlich organisierter An-griff auf die Existenz der jüdischen Gemeinschaft. Wenn ich heute die Namen der Opfer lese, die in Konzentrationslager verschleppt wurden, wird mir bewusst, wie zerbrechlich Sicherheit, wie verletzlich Leben sein kann.

Diese Nacht lehrt uns, dass Erinnerung nicht nur Rückblick, sondern Verantwortung ist. Und doch ist Geschichte nie nur Dunkelheit. 1989 fiel die Berliner Mauer. Menschen stürzten sich in die Arme, Grenzen verschwanden, und ein neues Kapitel begann. Für Jüdinnen und Juden in Deutschland war das nicht nur politische Freiheit, sondern auch die Chance, wieder sichtbar zu sein, jüdisches Leben neu zu gestalten, Gemeinschaften aufzubauen. Die Maueröffnung zeigt, dass Hoffnung möglich ist – selbst nach den tiefsten Brüchen.

Heute, wenn ich durch Städte gehe, in denen Synagogen stehen, die längst wieder errichtet wurden, und Kinder lachend durch Straßen laufen, die einmal von Hass geprägt waren, spüre ich den Kontrast zwischen Zerstörung und Neubeginn. Der 9. November ist für mich kein abstraktes Datum in einem Geschichtsbuch.

Er ist spürbar in der Gegenwart, in den Erinnerungen der Über-lebenden, in den Stimmen der Jungen, die lernen, dass Freiheit Arbeit bedeutet – Arbeit des Erinnerns, des Hinterfragens, des Handelns.

Erinnerung allein reicht nicht. Gedenken muss verbunden sein mit Verantwortung: für ein Leben in Freiheit, für ein jüdisches Leben, das sicht- und erlebbar ist, für eine Gesellschaft, die wachsam bleibt gegen Anti-semitismus, Rassismus und Hass. Der 9. November erinnert uns daran, dass Geschichte nicht vorbei ist – dass sie in uns nachwirkt, uns formt und herausfordert.

So bleibt der 9. November ein Tag der Extreme, ein Tag der Mahnung, aber auch der Hoffnung. Er lädt uns ein, Geschichte zu spüren, damit Licht und Menschlichkeit stärker bleiben als Dunkelheit und Gewalt.