Dunkelfeldstudie beleuchtet erstmals jüdisches Leben und Alltag in Hamburg

Dunkelfeldstudie Jüdische Gemeinde Hamburg
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Deutschlandweit erstmalig untersucht eine Hamburger Studie Antisemitismus aus der Betroffenenperspektive. Indem sie den Fokus auf die jüdischen Wahrnehmung von Antisemitismus setzt, schließt die Studie „Jüdisches Leben und Alltag in Hamburg“ eine wichtige Lücke in der bisherigen Forschung zu diesem Thema.

Die Studie ist als Kooperationsprojekt der Akademie der Polizei Hamburg, der Polizeiakademie Niedersachsen, der Jüdischen Gemeinde in Hamburg und der Gleichstellungsbehörde auf Initiative des Antisemitismusbeauftragten erarbeitet worden. Heute wurden ihre Ergebnisse in den Räumen der Jüdischen Gemeinde in Hamburg von Gleichstellungssenatorin Katharina Fegebank und den Forschenden Prof. Eva Groß und Prof. Joachim Häfele vorgestellt, gemeinsam mit Polizeipräsident Falk Schnabel, dem Antisemitismusbeauftragte Stefan Hensel und dem 1. Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Philipp Stricharz.

Im Rahmen einer schriftlichen Befragung von Jüdinnen und Juden in Hamburg im Zeitraum
13.11.2023 bis 07.02.2024 konnten wichtige Erkenntnisse zum Leben und Alltag Hamburger Jüdinnen und Juden sowie zu ihren Erfahrungen mit Antisemitismus und den Folgen antisemitischer Diskriminierung gewonnen werden. Insgesamt nahmen 548 Jüdinnen und Juden an der anonymen
Befragung teil.

Die Studie zeigt, dass 77 Prozent, also etwa drei von vier der befragten Jüdinnen und Juden, in den vergangenen zwölf Monaten von antisemitischen Vorfällen betroffen waren. Etwa 55 Prozent der Befragten sind laut Studie von strafrechtlich relevanten antisemitischen Vorfällen betroffen. Dabei werden Beleidigungen und Bedrohungen online und auch außerhalb des Internets häufiger angegeben als körperliche Ubergriffe, Belästigung oder Verfolgung. Etwa 76 Prozent der Befragten erlebten die Vorfälle in Hamburg. Die überwiegende Mehrheit derjenigen, die von antisemitischen Vorfällen berichten, zeigt diese nicht an. Mehr als die Hälfte der Befragten (65 Prozent), die eine antisemitische Diskriminierung erlebt haben, führen diese auf die aktuelle Krisensituation in Israel und Gaza zurück.
Als direkte Folge dieser Antisemitismuserfahrungen geben laut Studie 89 Prozent der Betroffenen an, die eigene Religion nicht frei ausüben zu können. Ein Großteil vermeidet es, die eigene jüdische Identität öffentlich sichtbar zu machen. Zu den indirekten Folgen zählt die Studie zudem ein nachlassendes Vertrauen in öffentliche Institutionen wie Polizei, Gerichte, Stadtverwaltung und Bundesregierung.

Gleichstellungssenatorin Katharina Fegebank: „Mit dieser Studie haben wir erstmalig in Deutschland die Perspektive der Betroffenen wissenschaftlich untersucht und die Ergebnisse machen uns tief betroffen. Wenn Jüdinnen und Juden am Arbeitsplatz, auf dem Schulhof, auf der Straße oder online beleidigt werden, wenn sie sich nicht mehr sicher in Hamburg fühlen und ihre jüdische Identität aus Angst verstecken, dann sind wir als Staat und auch als Gesellschaft gefordert, den Schutz jüdisches Leben zu sichern. Gemeinsam treten wir dafür ein, dass Hamburg eine Stadt ist, in der Antisemitismus keinen Platz hat, und in der Jüdinnen und Juden ohne Furcht vor Diskriminierung und Hetze leben können.“

Polizeipräsident Falk Schnabel: „Jüdinnen und Juden müssen sich in Hamburg sicher fühlen können. Der Schutz des jüdischen Lebens hat in der Hamburger Polizei höchste Priorität.
Einsatzkräfte der Polizei schützen bereits heute viele jüdische Einrichtungen. Angesichts der aktuellen Studie wird allerdings deutich, dass wir im Hinblick auf das Vertrauen in die Ermittlungsbehörden und beim Thema Sicherheitsgefühl noch einiges zu leisten haben.“

Antisemitismusbeauftragter Stefan Hensel: „Die Dunkelfeldstudie hat erstmals die tiefgreifenden Auswirkungen von Antisemitismus auf Jüdinnen und Juden in Hamburg aufgezeigt. Insbesondere seit dem 7. Oktober sind die Sicherheitsbedenken so groß, dass sich viele Jüdinnen und Juden aufgrund antisemitischer Bedrohungen ins Private zurückziehen und weniger am öffentlichen Leben teilnehmen. Es ist unsere Pflicht, aus diesen Erkenntnissen die richtigen Schlüsse zu ziehen und entschieden gegen Antisemitismus vorzugehen, damit jüdisches Leben in Hamburg wieder uneingeschränkt möglich ist.“

Philipp Stricharz, 1. Vorsitzender Jüdische Gemeinde in Hamburg: „Die Studie bringt Erkenntnisse auf den Punkt, die uns lange bekannt sind, die aber jetzt erstmalig auf wissenschaftlichem Niveau aufbereitet, eingeordnet und belegt werden. Die Studie ist damit von hohem praktischem Nutzen für Entscheidungsträger. Antiisraelische Hetze im öffentlichen Raum beeinträchtigt, wie die Studie zeigt, die Teilhabe jüdischer Hamburger am öffentlichen Leben. Dieser Hetze muss Hamburg nunmehr entschieden entgegentreten und deutlich die Verantwortung der Hamas für das Leid in Israel und in Gaza betonen. Dass der Jüdischen Gemeinde seitens jüdischer Hamburger das höchste Vertrauen im Vergleich der genannten Institutionen entgegengebracht wird, bestätigt uns in unserem überwiegend ehrenamtlichen Engagement.“

Prof. Dr. Joachim Häfele, Polizeiakademie Niedersachsen: „Antisemitische Erlebnisse haben besonders weitreichende Folgen für die Betroffenen und reichen von psychischen Belastungen, sozialem Rückzug und dem Verlust des Vertrauens in öffentliche Institutionen bis hin zur Vermeidung des Offenlegens der eigenen jüdischen Identität.“

Prof. Dr Eva Groß, Akademie der Polizei Hamburg: „Unsere Daten zeigen, dass Betroffene auf Antisemitismus und dessen weitreichende Folgen besonders sensitiv mit Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen, Krisen und/oder Signalereignissen reagieren. Nur über ein verstetigtes Monitoring der Betroffenenperspektiven lassen sich solche Zuspitzungen möglichst frühzeitig erkennen und als demokratische Stadtgesellschaft angemessen darauf reagieren.“

Der überwiegende Anteil der Befragten (84,5 Prozent) ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Hamburg. Der Anteil von Frauen ist mit 54 Prozent etwas größer als der der Männer mit ca. 44 Prozent. Im Durchschnitt sind die Befragten 65 Jahre alt und somit deutlich älter als der Durchschnitt der Hamburger Bevölkerung.

Antisemitische Angriffe haben ein vermeidendes Verhalten zur Folge, das dazu führt, die eigene Identität im öffentlichen Leben geheim zu halten. Daraus ergeben sich der Rückzug ins Private und psychisch belastende Konsequenzen, etwa Ängste und Krankheiten. Weibliche jüdische Befragte berichten häufiger von Diskriminierungserfahrungen im Gesundheitswesen und im Umgang mit Behörden, wie auch im öffentlichen Bereich und in der Freizeit. Entsprechend sind auch die Ängste vor Diskriminierung und das Rückzugsverhalten aus öffentlichen Räumen unter Jüdinnen stärker ausgeprägt als unter männlichen.

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie stellen damit einen wichtigen Beitrag zur Schließung der Forschungslücke im Bereich der Antisemitismusforschung dar.

 

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