Im Schatten der Universität, zwischen Rothenbaumchaussee und Grindelallee, schlägt das Herz des jüdischen Hamburgs. Das Grindelviertel – ein Name, der für Generationen von Jüdinnen und Juden mehr bedeutet als nur eine Postleitzahl. Es ist ein Ort der Erinnerung und der Gegenwart, des Verlusts und der Erneuerung, ein Stadtteil, der wie kaum ein anderer in Deutschland von jüdischem Leben geprägt wurde und ist.
Wer heute durch die Straßen des Grindelviertels geht, bewegt sich auf geschichtsträchtigem Boden. Hier, wo sich heute Studierende in Cafés drängen und Radfahrer durch die engen Gassen schlängeln, entstand im 19. Jahrhundert ein urbanes jüdisches Zentrum, das Hamburg prägte wie wenig anderes. Die großbürgerlichen Häuser in der Grindelallee und der Hallerstraße erzählen noch immer von einer Zeit, als jüdische Kaufleute, Ärzte, Anwälte und Intellektuelle das Viertel zu ihrer Heimat machten.
Glanz und Vernichtung
Am Bornplatz erhob sich einst die majestätische Synagoge – ein neuromanischer Kuppelbau, der 1906 eingeweiht wurde und 1.200 Menschen Platz bot. Sie war nicht nur ein Gotteshaus, sondern ein architektonisches Statement: Hier gehören wir hin. Hier sind wir zu Hause. Die benachbarte Talmud-Tora-Schule in der Grindelallee war eine der bedeutendsten jüdischen Bildungseinrichtungen Deutschlands. Generationen jüdischer Kinder lernten hier Hebräisch und Mathematik, Tora und Literatur.
Das alles wurde brutal ausgelöscht. In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannte die Synagoge – die Feuerwehr schützte lediglich die umliegenden „arischen“ Gebäude. Von den etwa 20.000 Jüdinnen und Juden, die 1933 im Grindelviertel lebten, wurden die allermeisten ermordet oder zur Flucht gezwungen. Die Deportationen begannen 1941, viele direkt aus ihren Wohnungen im Viertel.
Ein Platz erinnert sich
Heute ist der Bornplatz wieder ein Ort der Begegnung mit der Geschichte. Wo einst die Synagoge stand, erinnert seit 1988 eine Bodenplatte an den zerstörten Sakralbau. Im Jahr 2021 wurde das „Haus der Namen“ eingeweiht – ein begehbares Mahnmal, das die Namen der deportierten Hamburger Juden und Jüdinnen sichtbar macht. Es ist ein stiller, eindringlicher Ort, der zum Innehalten zwingt.
Die restaurierte Talmud-Tora-Schule beherbergt heute das Joseph-Carlebach-Bildungshaus, benannt nach dem letzten Oberrabbiner Hamburgs, der 1942 in Jungfernhof bei Riga ermordet wurde. Hier finden Bildungsveranstaltungen statt, hier wird jüdisches Wissen weitergegeben – eine bewusste Anknüpfung an die unterbrochene Tradition.
Leben im Grindel heute
Doch das Grindelviertel ist mehr als Erinnerung. In der Grindelallee, nur wenige Schritte vom Bornplatz entfernt, steht die Synagoge Hohe Weide – 1960 als bescheidener Neubau errichtet, heute Zentrum der Jüdischen Gemeinde Hamburg. Freitagabend strömen hier Menschen zum Kabbalat Schabbat, an den Hohen Feiertagen ist das Haus voll. Die Gemeinde ist gewachsen, vor allem durch Zuzug aus der ehemaligen Sowjetunion, aber auch durch junge Familien und Studierende.
Gleich um die Ecke, in der Schlüterstraße, lädt das Café Leonar zum koscheren Lunch ein. Das Bildungs- und Kulturzentrum der Jüdischen Gemeinde in der Schäferkampsallee bietet ein reiches Programm von Sprachkursen bis zu Konzerten. Die Bibliothek des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in der Beim Schlump ist eine Schatzkammer für Forschende.
Und dann ist da noch das alltägliche jüdische Leben, das sich den Blicken oft entzieht: die chassidische Familie, die zum Schabbat durch die Straßen geht, die israelische Studentin im Supermarkt an der Grindelallee, der Rabbiner auf dem Fahrrad. Das Grindelviertel ist wieder – wenn auch in anderer Form – ein Ort jüdischen Lebens.
Ein Viertel ringt um seine Identität
Die Beziehung zwischen dem Viertel und seiner jüdischen Geschichte bleibt komplex. Stolpersteine vor vielen Häusern erinnern an die ermordeten Bewohner, doch viele der heutigen Anwohner wissen wenig über die Geschichte ihrer Straße. Das Grindelviertel ist heute vor allem ein Studentenviertel, geprägt von der Universität Hamburg, von WGs und Kneipen, von links-alternativem Flair.
Manchmal prallen diese Welten aufeinander: Wenn pro-palästinensische Demonstrationen durch das Viertel ziehen und die Synagoge von Polizei geschützt werden muss. Wenn antisemitische Graffiti übermalt werden müssen. Wenn Sicherheitsschleusen den Zugang zur Synagoge regeln. Das Grindelviertel erinnert daran, dass jüdisches Leben in Deutschland auch im 21. Jahrhundert nie selbstverständlich ist.
Und doch: Das Grindelviertel lebt. Es ist ein Ort, an dem Vergangenheit und Gegenwart ineinander verschränkt sind, ein Stadtteil, der zeigt, dass jüdische Geschichte in Deutschland mehr ist als nur Verfolgung und Vernichtung – auch wenn diese niemals vergessen werden dürfen. Es ist ein Ort der Hoffnung, dass jüdisches Leben in Deutschland eine Zukunft hat.
Wer durch das Grindelviertel geht, geht durch Schichten der Zeit. Jeder Stein erzählt. Und zwischen den Erinnerungen wächst, zerbrechlich und kostbar, neues Leben.