Ab dem Abend des 20. September feiern alle Juden weltweit das Laubhüttenfest Sukkot. Wir sitzen dann acht Tage in der Laubhütte im Garten hinter dem Haus oder auf dem Balkon, auch hier in Deutschland.
Wieso verlegen wir unseren Lebensmittelpunkt im Herbst in eine nicht wohnfeste Laubhütte? Dies ergibt sich aus dem 2. Buch Mose 23,43: »Damit Eure künftigen Generationen wissen sollen, dass Ich die Israeliten in Hütten habe wohnen lassen, als Ich sie aus Ägypten hinaus geführt habe.«
Das jüdische Volk zog vor genau 3334 Jahren aus Ägypten aus. Jedes Jahr erinnern wir uns an unseren Auszug durch eine Anzahl wichtiger Erwähnungen, da-mit wir dieses so besondere geschichtliche Ereignis aufs Neue selbst nachempfinden können.
Bekanntlich ist es ratsam, sich ab und zu daran zu erinnern, dass wir alle zusammen »ein wenig Flüchtlinge« sind. Die aktuelle Flüchtlingsproblematik in Europa ruft viel Mitleid, aber auch große Ängste hervor. Wie geht das Judentum damit um?
Eine Richtlinie ist für uns unverrückbar wie ein Baum: die Tora verbietet ausdrücklich, Flüchtlinge zu beleidigen. Doch leider geschieht dies gerade heute mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerkes. Unbekanntes erzeugt Unbeliebtheit, und man lässt sich schnell zu negativen Bemerkungen über Flüchtlinge und Fremde verleiten, auch wenn man ihre Lebensumstände nicht wirklich kennt.
Die Tora sagt ganz deutlich: »Einen Fremdling sollst Du weder unterdrücken noch ihn benachteiligen, denn ihr seid selber Fremdlinge im Land Ägypten gewesen« (2. Buch Mose 22,21). Im Talmud wird »unterdrücken« mit »verbale Kränkung« erklärt. Jemanden zu kränken, zu beleidigen und ihn als verkappten Kriminellen zu bezeichnen, ist Sünde.
Wie wir Menschen beurteilen sollten, haben wir auch dieses Jahr wieder der Toralesung zu Rosch Haschana in den Synagogen entnommen. Jischmael, der Sohn Awrahams, der als Stammvater der arabischen Völker bezeichnet wird, muss mit seiner Mutter Hagar das väterliche Haus verlassen und sie werden in die Wüste geschickt. Als Jischmael droht, zu verdursten, geschieht ein Wunder. G’tt öffnet Hagar die Augen, und Hagar sieht eine Wasserstelle.
Der Midrasch bietet uns einen tieferen Einblick und erzählt von einer Diskussion, die gerade in diesem Augenblick zwischen den Engeln und G’tt erfolgte. Die Engel wollten nicht, dass Jischmael gerettet werden sollte, da seine Nachkommen zu einem späteren Zeitpunkt in der Geschichte das jüdische Volk angreifen würden.
G’tt entgegnete jedoch, dass niemand aufgrund voraussichtlicher künftiger Taten beurteilt werden darf, und daher nur gilt, was derjenige jetzt und zur Stunde getan hat: »G’tt hörte die Stimme des Jungen, wo sich dieser befand« (1. Buch Mose 21,17). »Wo er sich befand« bedeutet laut dem Midrasch, in welchem Zustand er sich in diesem Augenblick befand. Er weinte, er war mit seiner Seele im Einklang, er blieb somit also am Leben.
Dürfen wir überhaupt Flüchtlinge verdächtigen und vernehmen, um festzustellen, ob sie terroristische oder andere verbrecherische Absichten haben? Selbstverständlich! Sobald die erste Not der Flüchtlinge gelindert ist, haben jeder Mensch, jede Gruppe und jedes Land das Recht und die Pflicht, die eigene Sicherheit als übergeordnet einzustufen.
Auch das Einholen von Informationen im Vorfeld ist sicherlich nicht verkehrt: »Wenn jemand Dich um Essen bittet, gib ihm sofort zu essen. Vielleicht leidet er tatsächlich Hunger. Danach sollst Du (und musst Du eventuell) gewissenhaft fest stellen, ob wir hier nicht betrogen wurden«, lehrt der Shulchan Aruch (Jore Dea 251:10).
Letztendlich geht es um unser Mitleid und um unsere Aufopferungsbereitschaft. Israel mit seinen mehr als acht Millionen Einwohnern hat in den vergangenen Jahren über eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Die Wirtschaft wächst dort immer noch. Man mag einwenden, es handelt sich um die eigenen Glaubensbrüder und -schwestern. Das stimmt zwar. Aber die wirtschaftliche Problematik bleibt die Gleiche.
Das wichtigste biblische Anliegen bei diesem Thema ist verbale Sorgfalt. Durch das allgemeine Gerede zum Thema Flüchtlinge werden allerhand Befürchtungen in einen sozial schwierigen Bereich verschoben oder »unterdrückt«, wie die Bibel sagen würde. Frans Timmermans, Vize-Vorsitzender der Europäischen Kommission, hat es auf den Punkt gebracht: »Die Migrantenkrise ist ein Moment der Wahrheit im Europäischen Geschehen«, sagte er.
Ohne Zweifel handelt es sich um eine enorme moralische Herausforderung. Medien sprechen nicht von ungefähr von einem Exodus in »biblischen Größenordnungen«. Das Flüchtlingsproblem ist so alt wie die Tora selbst. Um noch einmal auf das Zitat aus dem 2. Buch Mose 22,21 zurück-zukommen: »Den Fremdling sollst Du weder unterdrücken noch ihn benachteiligen«. In der jüdischen Tradition wird, wie bereits oben angedeutet, »unterdrücken« als »Schmerz durch Wörter zufügen« erklärt, während »benachteiligen« als »finanziell unanständig behandeln« aufgefasst wird. Sofort nach dieser Stelle wird im 2. Buch Mose 22,23 auch die himmlische Strafe in Aussicht gestellt: »Mein Zorn wird entflammen, und Ich werde Euch mit den Schwert töten.«
Aber es gibt natürlich Grenzen: Nächstenliebe im biblischen Sinn erfordert nicht, dass Hilfsbedürftige für alle Ewigkeit hier bleiben sollen. Wenn die Kriegsgefahr oder Hungersnot im Land der Herkunft gewichen sind, kann der Flüchtling im Regelfall in seine Heimat zurückkehren.
Als die Juden fünf Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung nach Babylon ins Exil getrieben wurden, erhielten sie vom Propheten Jeremia im Namen G’ttes einen wohlgemeinten Auftrag: »Fördert die Wohlfahrt in der Stadt Euer Verbannung.« Das heißt: Predige keine aufwieglerische Sprache gegen das Gastland und arbeite mit am Aufbau Deiner neuen Umgebung (Jeremia 29,7).
Weiterhin darf die Obrigkeit dem Zuzug von Fremden Einhalt gebieten, die überwiegend die bestehenden sozialen Wohlfahrtsysteme beanspruchen. Das Gastland muss die Zuwanderung verkraften können. Aus Sicht der Bibel gelten hier folgende Vorschriften: 1. finanzieller Eigenbedarf geht der Versorgung anderer vor; 2. der Lebensbedarf anderer ist wiederum wichtiger als die Schonung eigener finanzieller Rücklagen.
Unter den heutigen Gegebenheiten bedeutet das, dass Flüchtlinge, die um ihr Leben bangen müssen, über die Grenzen gelassen werden sollen, während für »Wirtschaftsflüchtlinge« andere Maßstäbe gelten.
In diesem Zusammenhang ist der Vers des 5. Buch Mose 15,7 von Belang: »Wenn sich unter euch ein Armer befinden sollte, einer Eurer Brüder, in einer eurer Wohnstätten, in eurem Land«. Die Bibel nennt hier einige zunächst übertrieben erscheinende Details, die der Sifre (Dewariem 15:7) wie folgt erklärt: »Unter Euch« bedeutet, dass Selbsterhalt vorgeht (das heißt, Maßstab ist das eigene Existenzminimum). »Einer Eurer Brüder« setzt voraus, dass die eigene Familie den Anderen gegenüber bevorzugt wird; und »In einer Eurer Wohnstätten« nennt an erster Stelle Nachbarn und städtische Mitbewohner, erst danach können Landsleute folgen.
Kommen Ausländer somit auf die letzten Plätze? Unterstützt die Bibel etwa das Motto »Das eigene Volk zuerst?« Nein, denn diese Liste der Bevorzugung gilt nur bei gleichen Bedürfnissen. Wenn der eine kein Dach über den Kopf hat und der andere lediglich seinen teuren Urlaub nach Barbados streichen müsste, geht der Obdachlose eindeutig vor.
Wäre eine gleichmäßige, also prozentuale Verteilung von Flüchtlingen auf die Länder Westeuropas gerecht? Ich glaube schon. Bereits in biblischen Zeiten wurde die Versorgung der Armen auf alle belastbaren Bürger umgelegt. Da Europa immer noch eine Einheit zu sein scheint, ist eine gleichmäßige Verteilung die logische Folge.
Dürfen Fremde »hart« angepackt werden? Nein, denn das wäre unmenschlich. Die Flüchtlingsproblematik ist letztendlich eine Frage unserer Gastfreundschaft und Opferbereitwilligkeit, verbunden mit Redlichkeit und Einsicht der Notwendigkeit.
Im Kontext der Versorgung von Flüchtlingen muss auch der Minhag (Brauch) von »Uschpizin« an Sukkot betrachtet werden. Während Sukkot empfangen wir »Uschpizin«, das aramäische Wort für Gäste. Laut der Tradition wird jeder in der Laubhütte von unseren Vorfahren besucht. Die Betrachtung des Begriffes »Uschpizin« greift zurück auf mystische Gedankengänge. »Wenn jemand in der Sukka sitzt, breitet die Schechina (G’ttliche Präsenz) ihre Flügel über die Sukka aus, zusammen mit Awraham und den fünf Zaddikim (Gerechten) – Jitzchak, Jaakow, Josef, Mosche und Aharon und König David.
Mystisch betrachtet, korrespondieren die sieben Gerechten mit den Eigenschaften, die wir Haschem zuschreiben. Awraham steht als Symbol für Chessed (Nächstenliebe), Jitzchak für Gvura (Kraft), und Jaakow symbolisiert das Ideal der Tora einer ausgeglichenen Persönlichkeit, bei der Nächstenliebe und religiöse Kraft im Gleichgewicht sind.
Rund um die Tradition des Empfanges der Uschpizin sind allerhand Bräuche entstanden. So werden sieben arme Menschen in die Sukka eingeladen, ein Brauch, mit dem der berühmte Kabbalist Arizal (16. Jahrhundert) angefangen haben soll. Die sieben Gäste auf Erden stehen dann den sieben Uschpizin »von Oben« gegenüber.
In der heutigen Zeit sollten wir auch Flüchtlinge in die Sukka einladen – oder uns zumindest bewusst sein, dass wir zu Gastfreundschaft verpflichtet sind, auch wenn es uns nicht immer leicht fallen mag. An dieser Stelle sei erneut die zentrale Stelle aus der Tora zitiert: »Denn Ihr seid selber Fremdlinge im Lande Ägypten gewesen«. Chag Sukkot Sameach!
Author: © Oberrabbiner Raphael Evers