Heute gedenken wir der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 80 Jahren. Ein Gedenken, das mich nachdenklich macht. Was haben wir Deutschen eigentlich in den letzten 80 Jahren aus unserer Geschichte gelernt? Ich schaue auf meine Oma, meine Kinder und nicht zuletzt auf mich. Die Aufklärung über unsere Geschichte könnte nicht unterschiedlicher sein.
Vor einigen Wochen ist meine geliebte Oma 100 Jahre alt geworden. Ein wirklich anstrengender Tag für sie, denn der halbe Ort hat es sich nicht nehmen lassen, ihr zu gratulieren. Unser Haus glich einem botanischen Garten. Auch der Bürgermeister ließ es sich nicht nehmen, sie zu besuchen. Jeder, der sie besuchte, stellte ihr dieselbe Frage: Wie war deine Jugend? Wie war es im Krieg? Da meine Oma geistig sehr fit ist, beantwortete sie alle Fragen ruhig und mit Begeisterung. Schon immer war es ihr wichtig, vor Anfängen von Hass jeglicher Art zu warnen. Sie war immer eine starke Frau – streng, aber liebevoll und hilfsbereit und allergisch auf jede Art von Ungerechtigkeit.
Immer wieder erzählte sie die Geschichte ihrer Eltern, die eine außerordentliche Abneigung gegen Hitler hegten und deshalb angefeindet wurden. Dabei sahen sie lange voraus, was geschehen würde. Sie erzählte von ihrem Leben auf einem Gutshof in der Nähe des heutigen polnischen Stettins. Sie erzählte davon, wie sie die einzige jüdische Familie im Ort versteckten. Sie erzählte davon, wie sie für die Familie extra Rationen an Lebensmitteln im Schornstein versteckten, damit diese nicht von Plünderern gestohlen wurden, bevor sie selbst mit ihrer Familie auf die Flucht in Richtung Hamburg ging. Jede Generation in meiner Familie wuchs damit auf. Bis heute haben wir ein lebendiges und mahnendes Stück Geschichte mit uns.
Auschwitz wurde befreit, als meine Oma zwanzig Jahre alt war – gerade erst dem Teenageralter entwachsen. Wie mag sie sich damals gefühlt haben? Ich schaue dabei auf meine große Tochter. Sie wird in diesem Jahr 20. Sie ist beschäftigt mit ihren Freunden, ihrer Ausbildung und baut sich ein Leben auf. Die deutsche Geschichte wurde ihr in der Schule nie richtig nahegebracht. Zwar beendete sie die Schule während der Zeit von Covid und viele Besichtigungen von Gedenkstätten fielen aus, aber auch jetzt, nach Covid, sehe ich keinen Unterschied.
Ich komme nicht umhin mich zu fragen, wie es sein kann, dass in manchen Bundesländern die Shoah erst in der zehnten Klasse unterrichtet wird und die Geschichte der DDR erst danach? Ist man privilegierter, nur weil man das Abitur macht?
Wie kann es sein, dass Klassenfahrten nach Auschwitz organisiert werden, bevor das Thema überhaupt im Unterricht besprochen wird? Was sollen die Schüler mit dem anfangen, was sie sehen, wenn sie es nicht einordnen können?
Als ich in diesem Alter war, begleitete uns das Thema Holocaust bereits seit der fünften Klasse. Wir wurden ermahnt und ständig auf unsere Vergangenheit aufmerksam gemacht. Es wurde uns eingeprägt, dass sich so etwas nicht wiederholen darf. Ich war ein DDR-Kind und neun Jahre alt, als die Mauer fiel. Und entgegen der vorherrschenden Meinung war die Aufarbeitung der Vergangenheit ein großes Thema für uns. Das Einritzen von Hakenkreuzen oder ähnlichen Dingen in die Schulbank wurde sofort bestraft und der Polizei gemeldet. Diskussionen oder Klassenkonferenzen darüber gab es nicht. Es war selbstverständlich, dass Antisemitismus in unserem Alltag keinen Platz haben durfte.
Dem Holocaust gedenken:
Ich höre und lese seit Jahren viele Äußerungen wie: „Es ist doch schon so viele Generationen her. Jetzt lasst es doch mal gut sein“ oder „Immer diese Judenthemen, ich kann es nicht mehr sehen.“ Dann schaue ich mir die Klassenchats meiner 15-jährigen Tochter an und denke mir: „Nein, es ist noch lange nicht genug!“ Memes mit Nazisprüchen machen mich wütend. Eltern, die solch ein Verhalten ihrer Kinder tolerieren, machen mich wütend. Das zuweilen gleichgültig erscheinende Verhalten der Schule macht mich wütend.
Vor einiger Zeit wurde in der Klasse meiner Tochter ein Junge von Schülern dabei erwischt, wie er den Hitlergruß im Unterricht zeigte. Meine Tochter meldete es der Lehrerin. Seitdem sind zwei Jahre vergangen. Die Schule hat nichts getan. Jetzt wurde derselbe Junge von einem Lehrer dabei erwischt. Plötzlich werden alle Schüler in der Klasse beschimpft, weil sie nichts gesagt hätten, und es entsteht eine hitzige Diskussion darüber, ob man einen Mitschüler wegen so einer „Kleinigkeit“ denunzieren oder ruhig bleiben sollte. Diese Diskussion entsteht übrigens auch im Elternchat – bei Erwachsenen, die es eigentlich besser wissen sollten. Mir wurde dann erklärt, dieses Verhalten sei „rein pubertär“. War das Verhalten der Wähler der NSDAP ebenfalls „rein pubertär“?
Die Schule verhält sich machtlos und hat diesen Vorfall auch nicht dazu genutzt, das Thema Shoah vorzuziehen. Hilfsangebote, wie zum Beispiel den Kontakt zu Holocaust-Überlebenden herzustellen, um Zeitzeugen sprechen zu lassen, stießen auf Granit.
Es bleibt also an uns Eltern, unseren Kindern das Thema Shoah zu erklären, auch wenn sie es nicht hören wollen, weil Roblox, TikTok und die erste Liebe viel wichtiger sind.
Auch meiner Oma waren das Thema Liebe und Freunde sicher wichtiger, als sie ein Teenager war. Dennoch wurde sie mit dem echten Leben konfrontiert: mit Krieg, Hunger und Flucht. Ich wünsche unseren Kindern, dass sie so etwas niemals erleben müssen.
Es ist unsere Verpflichtung als Eltern, unsere Kinder über ihre Verantwortung aufzuklären. Wenn die Regierung es nicht schafft, einheitliche Schulpläne zu schaffen und dem schwärzesten Teil unserer Geschichte genügend Platz einzuräumen, müssen wir Eltern das tun. Wir müssen gegen das Vergessen handeln. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.
Was haben wir also 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz gelernt? Ich denke, wir waren auf einem guten Weg. Aber wir scheinen von diesem Weg abgekommen zu sein. Der Weg ist Bildung und diese scheint in den letzten Jahren vernachlässigt worden zu sein. Ich würde mir wünschen, dass dieses Thema wieder ernster genommen würde. Nicht nur von uns Eltern, sondern auch von der Politik. In uns allen fließt dasselbe Blut – rotes Blut. Auch die Geschichte vereint uns alle. Wir müssen von einander lernen. Die Welt ist bunt und mit jedem Menschen, jeder Kultur die wir neu kennenlernen, lassen wir ein bisschen mehr Farbe in unser Leben.
80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz sind keine Befreiung von unserer Verantwortung, sondern eine Erinnerung daran, dass es lediglich ein Menschenleben her ist, dass 6 Millionen Menschen kaltblütig und strategisch ermordet wurden. 6 Millionen Menschen, die gerne ihren Kindern und Enkeln die Welt gezeigt hätten. 6 Millionen Menschen, die einfach nur in Frieden leben wollten.
Lassen Sie uns heute dieser 6 Millionen Menschen gedenken: Juden, Homosexuellen, Kommunisten, Künstlern, Sinti und Roma und Behinderten. Lassen Sie uns gemeinsam eine Kerze für sie alle entzünden.
Lassen Sie uns ein Licht in die Welt hinaussenden und nicht nur für Liebe und Freundlichkeit beten, sondern selbst liebevoll und freundlich sein.
Denn, wie Martin Luther King sagte: „Dunkelheit kann Dunkelheit nicht vertreiben; nur Licht kann das. Hass kann Hass nicht vertreiben; nur Liebe kann das.“
Herzlichst,
Sandra B.