Der Bundesgerichtshof hat den Schuldspruch gegen eine 99-jährige Frau bestätigt, die als Mittäterin bei Morden in einem NS-Konzentrationslager verurteilt worden war.
Jüdische Vertreter Deutschlands begrüßten die am Dienstag vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe verkündete Entscheidung.
„Ich halte das Urteil des Bundesgerichtshofs gegen die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F. für richtig.“,sagte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. „Es geht nicht darum, sie für den Rest ihres Lebens hinter Gitter zu stecken. Es geht darum, dass sich eine Täterin für ihre Taten verantworten und Worte finden muss, für das, was geschehen ist und für das, woran sie beteiligt war. Als Sekretärin im KZ Stutthof war Irmgard F. eine bewusste Gehilfen der nationalsozialistischen Mordmaschinerie und verantwortlich für die Ermordung tausender Menschen. Für Schoa-Überlebende ist es enorm wichtig, dass eine späte Form der Gerechtigkeit versucht wird. Umso schwerer wiegt das fehlende Schuldeingeständnis der Täterin. Es steht beispielhaft für die überwiegende Mehrheit der NS-Täter und Täterinnen, die unbehelligt ihr Leben fortführen konnten, ohne strafrechtliche Konsequenzen für ihre grausamen Verbrechen zu fürchten. Das Rechtssystem hat heute eine klare Botschaft gesendet: Auch fast 80 Jahre nach der Schoa, darf kein Schlussstrich unter die NS-Verbrechen gezogen werden. Mord verjährt nicht – weder juristisch, noch moralisch.“
Irmgard Furchner – Sekretärin von Paul-Werner Hoppe, dem SS-Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig (heute Gdansk in Polen) – wurde 2022 als Mittäterin an mehr als 10.000 Morden verurteilt, die dort während ihrer Tätigkeit vom 1. Juni 1943 bis zum 1. April 1945 stattfanden. Sie wurde auch wegen versuchten Mordes in fünf Fällen verurteilt. Dutzende von Überlebenden sagten in dem Prozess aus.
Die Richter waren sich einig, dass Furchner durch ihre Arbeit wissentlich die Ermordung von 10.505 Häftlingen durch Vergasungen, durch die schrecklichen Bedingungen im Lager, durch die Verlegung in das Vernichtungslager Auschwitz und durch die erzwungenen Todesmärsche am Ende des Krieges unterstützt hat.
Furchner legte gegen das Urteil Berufung ein, wofür sie von einem Jugendgericht, vor dem sie ursprünglich wegen ihres Alters zur Tatzeit angeklagt war, zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Nun wurde ihre Berufung abgelehnt.
„Dies ist einer der so genannten verspäteten Prozesse, die durch eine dramatische Änderung der deutschen Strafverfolgungspolitik gegenüber Nazi-Kriegsverbrechern ermöglicht wurden“, sagte Ephraim Zuroff, leitender Nazi-Jäger des Simon Wiesenthal Center, gegenüber der JTA.
Das 2008 verabschiedete Gesetz erlaubt es den Staatsanwälten, Verdächtige als Komplizen anzuklagen, anstatt zu beweisen, dass sie persönlich einen Mord begangen haben. Die Verurteilung von John Demjanjuk 2011 in einem Münchner Gerichtssaal war ein Testfall: Er wurde als Mittäter bei der Ermordung von fast 30.000 Juden im Todeslager Sobibor im von den Nazis besetzten Polen schuldig gesprochen.
In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche Personen auf der Grundlage dieses Gesetzes verurteilt, so Zuroff, der sagte, Deutschland habe zuvor eine „schreckliche Bilanz in Bezug auf die Verfolgung von Nazis“ gehabt. Das Gesetz „hat die ganze Landschaft der Verfolgung von Nazi-Kriegsverbrechern verändert“, sagte Zuroff, der das Israel-Büro des Zentrums leitet und für Osteuropa-Angelegenheiten zuständig ist.
Die Nazis errichteten das Lager Stutthof im Jahr 1939 als ziviles Internierungslager. Nach Angaben des U.S. Holocaust Memorial Museum wandelten sie es Ende 1941 in ein „Arbeitserziehungslager“ um, und bald darauf in ein Konzentrationslager. Die meisten Gefangenen, insgesamt etwa 100 000, waren nichtjüdische Polen. Einige Häftlinge, die als arbeitsunfähig eingestuft wurden, wurden in einer Gaskammer oder durch tödliche Injektionen ermordet. Mehr als 60.000 Menschen starben in Stutthof. Die sowjetische Armee befreite das Lager am 9. Mai 1945.
Einem Bericht über den ersten Prozess zufolge hatte Furchner 1954 ausgesagt, dass ihr Chef ihr täglich Briefe und Funksprüche diktiert habe, dass sie aber nichts von der Behandlung der Häftlinge gewusst habe.
Im Jahr 2021 versuchte die Angeklagte im Alter von 96 Jahren, sich dem Gericht zu entziehen, indem sie mit einem Taxi aus ihrem Seniorenheim in Itzenhoe, einer Stadt in Norddeutschland, floh. Sie wurde in einer örtlichen S-Bahn-Station aufgefunden.
In der Zwischenzeit befinden sich einige persönliche Gegenstände, die Häftlingen des Lagers gehörten, immer noch im Archiv der NS-Akten in Bad Arolsen, Deutschland; insgesamt wurden mehr als 2 500 persönliche Gegenstände von alliierten Truppen bei der Befreiung von Konzentrationslagern geborgen. Durch eine Online-Ausstellung ist es gelungen, einige Familien mit Erinnerungsstücken wieder zusammenzuführen.
Nach Angaben der deutschen Bundesanwaltschaft in Ludwigsburg sind noch drei weitere Verfahren gegen mutmaßliche Komplizen von NS-Kriegsverbrechen anhängig. Mit der heute verkündeten Entscheidung „hat die Justiz ein klares Zeichen gesetzt“, sagte Schuster in seiner Erklärung. „Auch fast 80 Jahre nach der Shoah gibt es keine Vergebung für NS-Verbrechen. Es gibt keine Verjährung von Mord – weder rechtlich noch moralisch.