Lediglich IHN zu fürchten, auf SEINEN Pfaden zu wandern und IHN zu lieben und IHN mit Euern ganzen Herzen und Eurer ganzen Seele zu dienen
Was möchte oder erwartet HaSchem von uns? Eine philosophische Frage, die diese Woche in der Thora beantwortet wird: „Und nun, Israel, was erwartet G“tt von Euch? Lediglich IHN zu fürchten, auf SEINEN Pfaden zu wandern und IHN zu lieben und IHN mit Euern ganzen Herzen und Eurer ganzen Seele zu dienen“ (10:12).
Unsere Chachamim, die Weisen haben hieraus abgeleitet, dass sich alles in der Hand des Himmels befindet, „außer die Achtung oder die Furcht vor G“tt“. HaSchem verlangt von uns, dass wir IHN fürchten. Dieses bedeutet dann, dass die Achtung vor HaSchem im Grunde genommen IHN außen vor lässt. Sie hängt nur von uns selbst ab. G“tt hat SICH hier eben zurück gezogen.
Wenn dieses die einzige Angelegenheit ist, die G“tt von uns erwartet, dann bedeutet dieses, dass sich alle andere Angelegenheiten nicht innerhalb unseres Bereiches befinden. Aber ist das auch so? Gibt es keine anderen Angelegenheiten, für die wir selber verantwortlich sind? Die gibt es bestimmt! Der Moschaw Sekenim (von den Tosafisten, französische Tora-Gelehrte 13. Jahrhunderte) zitiert den Talmud in B.T. Ketuwot 30a, wo steht, dass alles in der Hand des Himmels ist, ausgenommen „tzinim“ und „pachim“. Tzinim sind Dorne und Pachim sind Fallen (Sprüche 22:5). Vorsichtige Menschen beugen da vor, hierdurch beschädigt oder verletzt zu werden. Jeder ist hierfür selber verantwortlich. Wenn der Mensch nicht aufpasst, wird G“tt ihn voraussichtlich nicht beschützen. Bekanntlich ist da mehr „nicht in G“ttes Hand“, als nur die Furcht vor dem Himmel.
Die irdische und die himmlische Welt
Es gibt tatsächlich zwei Bereiche, für die der Mensch selber verantwortlich ist: die irdische und die himmlische Welt – gaschmiut und ruchniut. Beim irdischen Bereich können bestimmte schädliche Einflüsse vermieden werden (wie das Rauchen). Höhere Belange, sowie Persönlichkeit oder Intelligenz befinden sich in G“ttes Hände und sind von vornhinein bestimmt oder beschlossen. Das Einzige, was wir da selber wählen können ist, ob wir G“tt fürchten werden.
Zwei Lebensbereiche
Beide Aussagen sind also nicht widersprüchlich. Es geht um zwei verschiedene Lebensbereiche, dem Geistigen und dem Materiellen. In beiden Sphären gibt es einen bestimmten Bereich, in dem G“tt uns vollständig freie Hand lässt. HaSchem zieht sich vollständig zurück.
Der Prophet Jirmijahu gibt das deutlich wieder: „So spricht HaSchem: “Ein kluger Mensch braucht sich nicht mit seiner Klugheit zu rühmen, ein Starker braucht sich nicht wegen seiner Kraft zu rühmen und ein reicher Man braucht sich nicht selber wegen seines Reichtums zu rühmen. Aber derjenige, der sich rühmen möchte, sollte sich in dieser Hinsicht rühmen: dass er den Verstand dazu hat und MICH kennt, dass er weiß, dass ICH HaSchem bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit auf Erden erweist. Denn in diese Menschen empfinde ICH Wohlbehagen“, spricht HaSchem“ (9:22).
Gaben von HaSchem
Sich selber einbringen und initiativ sein! Wir können nur stolz sein, wenn wir selber etwas geleistet haben. Aber die meisten Dinge in unserem Leben sind Gaben von G“tt. Das Einzige, auf das wir wirklich stolz sein können, ist das Kennen von G“tt. Das ist unser eigener Einsatz und Einbringung.
Dieses steht auch in den Worten des Passuk (Vers) angedeutet: „was möchte G“tt von Dir?“ Im Hebräischen „von Dir“ steht hier „me’imach“. Dieses bedeutet: „Was möchte G“tt von dem, was bei Dir ist“. In der Hebräischen Sprachnuance bedeutet dieses „das, was Du bei Dir selber hast“. Nicht unbedingt nur Deine materiellen Besitztümer, sondern mehr Deine geistigen Erworbenheiten.
Das fragt G“tt, was sich bei Dir befindet, was Du selber erworben hast. Die eigene freiwillige Wahl. Darum geht es im Judentum. Das ist andauernd die zentrale Lebensfrage. Wofür gehen wir und wofür stehen wir? Für das höhere, geistige oder für das Irdische, das Materielle?
© Oberrabbiner Raphael Evers