PESSACH GIBT UNS DIE KRAFT, UNSER JUDENTUM JEDES JAHR ZU ERNEUERN

Wasser wird in Blut verwandelt, James Tissot
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Wir lesen von den zehn Plagen. Wir werden allmählich aus Ägypten befreit. In zweieinhalb Monaten werden wir den Auszug aus Ägypten feiern. Wir wurden allmählich ein freies Volk mit eigenen Aufgaben, was uns von den anderen Völkern völlig unterschied.

Diese Aufgaben werden als Mitzvot, Gebote, bezeichnet. Jedes Gebot enthält einen ganz bestimmten Aspekt unseres Jüdischseins, unseres Judentums. Besonders die ersten Gebote, die das jüdische Volk erhielt, sind Kraftquellen, die jüdische Energie erzeugen, unsere Identität definieren und uns bis heute in unserem Anderssein inspirieren.

Jedes Jahr feiern wir Pessach. Jedes Jahr zeigen wir unseren Glauben an den Ewigkeitswert der Befreiung von Sklaverei, Assimilation und Antisemitismus. Pessach symbolisiert die endgültige Erlösung des Jüdischen Volkes in Messianischen Zeiten. Doch bis dahin ist noch viel zu tun. Wir müssen uns dieser glorreichen Zukunft würdig erweisen, indem wir alle Mizwot (Gebote), die mit diesem wundersamen Fest verbunden sind, genau unter die Lupe legen und beherzigen. Nur dann werden die Jüdischen Feiertage, insbesondere Pessach, eine jährliche Gelegenheit sein, unsere Spiritualität wieder aufzuladen. Kurz vor und nach dem Pessachfest in Ägypten wurden uns zwei besondere Mizwot (Gebote) gegeben: Tefilin, die Gebetsriemen und der Jüdische Kalender. Beide Gebote bieten eine Menge innovativer Inspirationen.

 

Ein Volk

Die Worte „sende Mein Volk weg, damit es Mir dient“ werden oft nur teilweise zitiert. Der Zweck unserer Freiheit war es, eine religiöse Bindung zu HaSchem aufzubauen. Nach dem Exodus sollten wir die Tora auf dem Berg Sinai empfangen. Pharao war der erste, der das Jüdische Volk ein Volk nannte. Bis dahin waren sie Kinder von Ja’akow oder Bnei Jisra’el. Pharao war der erste, der sagte: „Seht, das Volk der Bnei Jisra’el ist zahlreich und stärker als wir. Kommt, lasst uns klug mit ihnen umgehen, damit sie sich nicht vermehren“ (Schemot/Ex. 1:9,10).

 

Pharao hatte eine negative Vorstellung über das Volk

Wie hat Pharao das Jüdische Volk als Volk wahrgenommen? Er verstand, dass die Juden ein gemeinsames Schicksal hatten. Aber er betrachtete das sehr negativ. Das Schicksal des Jüdischen Volkes war es, zu leiden. Ihre Besitztümer wurden fortgegeben. Ihre Hoffnungen schienen zunichte gemacht. Ihr Leben war nicht sicher: „Jeden Sohn, der geboren wird, werdet ihr in den Fluss werfen“. Auf diese Weise verstand Pharao die gemeinsame Zukunft des Jüdischen Volkes, und das war in seinen Augen sein Schicksal.

 

Erst am Sinai entstand ein positives Volksgefühl

Mosche Rabbenu (unser Lehrer) betont jedoch, dass wir erst am Berg Sinai ein Volk wurden. Nicht beim Auszug aus Ägypten und auch nicht bei der Teilung des Schilfmeeres.

Erst als wir die Tora erhielten, verkündete Mosche Rabbenu: „Heute werdet ihr ein Volk für HaSchem, euren G-tt, werden“ (Dewarim/Deut. 27:9). Kurz bevor wir die Tora erhielten, rief das Jüdische Volk „Na’asse wenischma“ – wir werden zuerst tun, was HaSchem sagt, auch wenn wir die Bedeutung der Mizwot (Gebote) und des Jüdischseins erst später verstehen. Schon ein kleines bisschen Handeln kann uns zu unseren Wurzeln, unseren Jüdischen Ursprüngen, zurückbringen. Trotz der schweren Unterdrückung haben wir uns immer etwas vom Judentum bewahrt, was ein späteres „revival“ garantierte. 

 

Chametz und Matza: Die russische Einwanderung zeigt, wie wir zu unseren Wurzeln zurückkehren

Zu Beginn der großen Einwanderungswelle aus der Sowjetunion war Rav Jisrael Meir Lau Oberrabbiner von Tel Aviv-Jaffo. Eines Tages saß Rav Lau in einem Bait Dien (Gericht) für Giur (Jüdisch werden) und half neuen Einwanderern, ihre Jüdische Identität zu bestimmen.

Vor ihnen stand ein 42-jähriger Arzt, der am Vortag mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern aus der Sowjetunion gekommen war. Er wollte für die Aufnahmezentren eine Bestätigung, dass er Jude ist. Er hatte zwei Zeugen mitgebracht, die bezeugen sollten, dass er sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits jüdisch war. Seine Mutter war die Leiterin einer Krankenhausabteilung in Moskau. Sein Vater war Chirurg, aber er war schon vor langer Zeit gestorben. Einer der Zeugen sagte sehr deutlich, dass er bei der Brit Mila des jungen Arztes, der George hieß, anwesend gewesen sei.

Der zweite Zeuge war ein alter Chabadnik, der mit einer Mütze auf dem Kopf und einem langen Bart über seinem Mantel in das Bait Din kam. Er sagte, dass Georges Mutter chronische Raucherin war (zwei bis drei Schachteln pro Tag). Jeden Abend, bevor sie schlafen ging, nahm sie eine Zigarette heraus und legte sie in einen Karton in ihrem Kleiderschrank. Jeden Abend sparte sie eine Zigarette auf. Nach Purim kam der Chabadnik zu ihr nach Hause. Sie trafen eine Vereinbarung: Sie gab ihm 350 Zigaretten, die sie gespart hatte, und er gab ihr ein paar Kilo Mehl, damit sie zu Hause Mazzes backen konnte. Sie hielt weder Schabbat noch Kaschrut ein. Sie konnte die wesentlichen Gebote nicht erfüllen, hielt es aber für sehr wichtig, in der Seder-Nacht dem Auszug aus Ägypten mit all seiner Symbolik zu gedenken.

Rav Lau sagte: „Ich war von dieser Geschichte sehr beeindruckt. Der Sohn gab mir die Telefonnummer seiner Mutter in Moskau und ich rief sie an. Sie konnte immer noch ein wenig Jiddisch sprechen, und ich erzählte ihr, dass wir die Mitzwa der Matza einmal im Jahr halten, dass sie es aber jeden Tag tut. Ich sagte, dass ich nicht wüsste, ob die von ihr gebackenen Mazzot halachisch koscher seien, aber dass sie sicherlich heilig und rein seien und dass G-tt sie mit Freuden annehme. Daran habe ich nicht eine Sekunde lang gezweifelt. Ich ließ sie am Telefon mithören, während ich weiter mit ihrem Sohn auf Englisch sprach. Ich sagte zu ihm: „George, ab heute heißt du nicht mehr George, sondern Gershon.“

Seine Mutter am anderen Ende der Leitung vergoss Tränen. Sie sagte, dass Gershon genau der Name sei, den sein inzwischen verstorbener Vater ihm vor 42 Jahren bei der Brit Mila gegeben habe.

Die Moral von der Geschicht‘: Oft genügt eine kleine Erinnerung oder ein Hinweis – wie in diesem Fall die 350 Zigaretten und die Tüte Mehl -, damit die nächste Generation den jiddischen Faden aufnimmt und in der Jiddischkeit (dem Judentum) weiterwächst.

 

© Oberrabbiner Raphael Evers

Foto: Wasser wird in Blut verwandelt, James Tissot