Am 17. Juli 2025 feiert Anita Lasker-Wallfisch ihren 100. Geburtstag. Es ist ein Anlass, der über das Persönliche hinausgeht. Denn wer auf das Jahrhundert ihres Lebens schaut, blickt zugleich in den Abgrund der Schoah – und auf die Kraft jüdischen Überlebenswillens. Die Cellistin von Auschwitz hat überlebt, erzählt, erinnert. Und sie hat dabei nie ihren Glauben an die Menschlichkeit verloren.
Zwischen Musik und Verfolgung
Geboren 1925 in Breslau, wächst Anita in einem assimilierten jüdischen Elternhaus auf. Musik ist Teil der Familie – ihr Vater ein Jurist, ihre Mutter eine Geigerin. Mit dem Cello findet sie früh ihr eigenes Ausdrucksmittel. Die jüdische Identität der Familie ist selbstverständlich, aber nicht religiös geprägt.
Doch mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten verändert sich alles: Die Laskers verlieren ihre Rechte, ihre Heimat, ihre Familie – und beinahe ihr Leben. Anita und ihre Schwester Renate werden 1943 verhaftet und nach Auschwitz deportiert.
Das Orchester im Schatten des Todes
In Auschwitz rettet Anita ihre musikalische Begabung das Leben. Sie wird als Cellistin ins Frauenorchester aufgenommen – einem Ensemble, das vor SS-Offizieren marschierende Häftlinge begleitet und für Lagerkommandanten spielt. Musik, wo Menschlichkeit aufgehört hat – ein surrealer, grausamer Widerspruch.
Anita hat diese Zeit überlebt, doch nie verklärt. In späteren Jahren sagte sie: „Wir waren Musikerinnen in einem Vernichtungslager. Es war keine Musik – es war Überleben.“
Bergen-Belsen, Befreiung – und das erste Zeugnis
Im November 1944 wird sie nach Bergen-Belsen verlegt. Dort erlebt sie die Befreiung durch britische Soldaten – ausgemergelt, krank, aber am Leben. Bereits am nächsten Tag gibt sie der BBC eines der ersten Zeugnisse über das, was in den Lagern geschehen ist.
Nach dem Krieg folgt der Aufbruch: 1946 emigriert sie nach Großbritannien. Ihre jüdische Identität bleibt Teil ihres Selbstverständnisses – nicht als religiöse Rückkehr, sondern als moralischer Kompass.
Vom Schweigen zur Stimme
Anita Lasker-Wallfisch schweigt viele Jahre über ihre Erfahrungen. Erst in den 1980er-Jahren beginnt sie, darüber zu sprechen – erst zögerlich, dann mit wachsender Klarheit und Entschlossenheit. In ihrem Buch Ihr sollt die Wahrheit erben formuliert sie eine Botschaft, die über Generationen hinweg reicht.
Sie wird zur Zeitzeugin im besten Sinne: nicht nur Überlebende, sondern Vermittlerin. In Schulen, Gedenkstätten, vor Abgeordneten im Bundestag spricht sie über das, was war – und über das, was nie wieder sein darf.
Ein jüdisches Leben nach der Schoah
Trotz allem – oder vielleicht gerade deshalb – führt sie ein Leben in der Musik, der Familie, der jüdischen Erinnerung. In London ist sie Mitbegründerin des English Chamber Orchestra, sie heiratet, bekommt drei Kinder. Ihre Tochter Maya Lasker-Wallfisch arbeitet als Therapeutin für transgenerationale Traumata und setzt sich ebenfalls aktiv für jüdische Aufklärung und Erinnerungsarbeit ein.
Anitas Engagement bleibt bis heute unermüdlich. Sie beobachtet mit Sorge den wachsenden Antisemitismus in Europa, die Zunahme von Verschwörungstheorien, die Relativierung der Schoah. Ihre Botschaft an die jüdische Gemeinschaft: „Unsere Geschichte verpflichtet uns – nicht zur Angst, sondern zur Wachsamkeit.“
Der 100. Geburtstag
Anlässlich ihres 100. Geburtstags findet ein Gedenk- und Festkonzert in der Wigmore Hall in London statt – mit Werken jüdischer Komponisten, gesprochenen Texten ihrer Tochter und Musik ihrer Enkel. Es ist kein lauter Geburtstag – sondern ein würdevoller, jüdischer Moment der Erinnerung.
Warum Anita Lasker-Wallfisch uns alle etwas angeht
Für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland, Europa und weltweit ist Anita Lasker-Wallfisch weit mehr als eine Zeitzeugin. Sie ist ein Symbol für das Überleben – nicht nur körperlich, sondern auch kulturell. Für ein Judentum, das nicht im Opferstatus verharrt, sondern Zeugnis ablegt, Verantwortung übernimmt und weitergibt.
Anitas Leben zeigt: Jüdisches Leben hat immer wieder neu begonnen – mit Würde, mit Musik, mit dem Willen zur Zukunft. Ihr Jahrhundert ist nicht nur Geschichte – es ist Vermächtnis.
Copyright: Persönlicher Besitz der Familie- abfotografiert von Sandra Borchert