Reise um die Welt: Jüdisches Leben in Marokko gestern und heute

Sonnenaufgang über Marrakesch
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Wenn die engen Gassen der Mellahs – der historischen jüdischen Viertel – erzählen könnten, würden sie Geschichten von goldenen Zeiten, bitteren Abschieden und einem leisen, aber hartnäckigen Wiedererwachen jüdischen Lebens in Marokko berichten. Das nordafrikanische Königreich, das heute nur noch eine kleine jüdische Gemeinde beherbergt, war einst Heimat für eine der ältesten und bedeutendsten jüdischen Gemeinschaften der arabischen Welt.

Jahrhunderte alte Wurzeln

Jüdisches Leben in Marokko lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Bereits nach der Zerstörung des Zweiten Tempels siedelten sich jüdische Gruppen in Nordafrika an. Einen erneuten großen Zuzug erlebte Marokko nach der Vertreibung der Sephardim aus Spanien im Jahr 1492. Diese brachten nicht nur religiöses Wissen mit, sondern auch wirtschaftliche Fähigkeiten, Sprachen und eine blühende Kultur.

Juden lebten über Jahrhunderte hinweg in fast jeder größeren Stadt – in Fès, Marrakesch, Casablanca, Essaouira, aber auch in ländlicheren Regionen wie im Atlasgebirge. Die meisten wohnten in sogenannten „Mellahs“, eigene Viertel innerhalb oder am Rande der Altstädte. Obwohl Juden unter dem Schutz der jeweiligen Herrscher standen, war das Zusammenleben mit der muslimischen Mehrheitsbevölkerung nicht immer frei von Spannungen.

Blütezeit und Exodus

Unter französischem Protektorat (1912–1956) öffneten sich vielen Juden neue Wege: Bildung, Handel, Berufe im Justizwesen. Casablanca entwickelte sich zum Zentrum jüdischer Moderne in Nordafrika. Die jüdische Bevölkerung wuchs – Mitte des 20. Jahrhunderts lebten über 250.000 Juden in Marokko.

Mit der Gründung des Staates Israel und insbesondere nach den Unabhängigkeitsbestrebungen in Nordafrika setzte jedoch eine massive Emigration ein. Viele Juden wanderten nach Israel, Frankreich, Kanada oder in die USA aus. Heute leben schätzungsweise nur noch etwa 2.000 Juden in Marokko – die Mehrheit in Casablanca.

Königlicher Schutz und ein neues Interesse

Auffällig ist, dass Marokko trotz des Rückgangs jüdischer Bevölkerung offiziell eine positive Haltung gegenüber seinem jüdischen Erbe einnimmt. König Mohammed VI. betont regelmäßig die Bedeutung der jüdischen Kultur als festen Bestandteil der marokkanischen Identität. In der neuen marokkanischen Verfassung von 2011 wird die jüdische Komponente der nationalen Kultur ausdrücklich erwähnt.

In den letzten Jahren wurden viele Synagogen, Friedhöfe und jüdische Schulen renoviert – unter staatlicher Schirmherrschaft. Die Bayt Dakira („Haus der Erinnerung“) in Essaouira, ein beeindruckendes Museum und Kulturzentrum, ist nur eines von vielen Zeichen dieses kulturellen Revivals. Der jüdisch-marokkanische Dialog erhält so neue Sichtbarkeit, sowohl im Land selbst als auch international.

Zwischen Erinnerung und Gegenwart

Für viele marokkanische Juden in der Diaspora bleibt die emotionale Verbindung zur Heimat stark. Hochzeiten, Pilgerfahrten zu Heiligen-Gräbern wie dem von Rabbi Amram ben Diwan oder dem Baba Sali, und regelmäßige Besuche in die alten Heimatorte sind Ausdruck dieser tiefen Verbundenheit.

Auch der jüdische Tourismus gewinnt an Bedeutung. Reisen auf den Spuren der Ahnen, Besuche der alten Mellahs und Synagogen oder kulturelle Veranstaltungen wie das Festival der jüdisch-marokkanischen Musik in Fès tragen dazu bei, das reiche Erbe lebendig zu halten.

Jüdisches Leben in Marokko ist heute zahlenmäßig klein, aber symbolisch bedeutend. Es ist eine Geschichte von Tiefe, Tragik und Resilienz. Zwischen Erinnerungskultur und tatsächlicher Präsenz lebt ein Stück jüdisch-nordafrikanischer Identität weiter – in alten Melodien, in renovierten Synagogen, in der Sprache der Großeltern und in den Herzen einer weit verstreuten, aber stolzen Gemeinschaft.

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