Rosch Haschana betont die Einheit der gesamten Schöpfung

Rosch HaSchana
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Weshalb kommen wir an den Hohen Feiertagen in die Synagoge?

Ist es ein ungestillter Hunger nach Kontakten, Vertrautheit und Zusammenhörigkeit, die die meisten Menschen in die Synagoge treibt, um das weitverbreitete Empfinden von Entfremdung und Einsamkeit zu überbrücken?

Diese Gefühle haben sich in den letzten 40 Jahren verschlimmert durch die soziale Mobilität, durch den Zusammenbruch traditioneller Gemeinschaften, dem Auseinanderbrechen von Ehen und Familien, der grossen Kluft zwischen den Generationen, dem fortschreitenden Sog in die Städte und dem Verschwinden der dörflichen Vertrautheit und dem daraus resultierenden Fehlen an gewachsenen Wurzeln.

Oder ist es das vertraute Jugendbild der im Ohr nachklingenden Melodien, die Gefühle von Geborgenheit und Sicherheit hochkommen lassen, die uns an die Synagoge binden?

Oder hat das Judentum doch etwas mehr zu bieten, als nur Nostalgie?

Weshalb sind wir eigentlich überhaupt Mitglied einer Jüdischen Gemeinde?

PERSÖNLICHE BESTANDSAUFNAHME

Wir leben in einer „affluent society“ – in einer Gesellschaft, in der die meisten Bedürfnisse abgesichert sind. Und doch ist unsere jüdische Gemeinschaft kein Vorzeigebild von Zufriedenheit und Ruhe.

Psychologen würden sagen, wir sollten selber in einen Spiegel schauen, der nicht flach liegt. Die menschliche Psyche ist doch anders gestrickt, als wir sie meistens beurteilen.

Selbst wenn wir eine bestimmte Menge an materiellem Erfolg erreicht haben, entwickelt sich von Zeit zu Zeit eine gewisse Unzufriedenheit und Rastlosigkeit, wenn wir unser tiefstes menschliches Potential nicht in die Realität umsetzen und unsere meist eigenen Fähigkeiten nicht entfalten können.

Ein Musiker muss Musik machen, ein Kunstmaler muss malen, ein Dichter muss Gedichte schreiben können, wollen diese Menschen letztendlich ihren Seelenfrieden erreichen. WAS DEN MENSCHEN AUSMACHT, DAS MUSS ER SEIN.

Er/sie muss der eigenen Natürlichkeit treu bleiben. Jeder Mensch hat ein Bedürfnis an Selbsterfüllung: das alles zu werden, zu dem er/sie im Stande ist. Die genauen Formen, die diese Bedürfnisse annehmen können, werden selbstverständlich von Person zu Person sehr unterschiedlich ausfallen.

Aber es gibt EINEN menschlichen Aspekt, bei dem alle Juden gleich sind, und das ist ihr „Pünktchen Jiddischkeit“, das uns alle verbindet. Es ist dieses „Judentumpünktchen“, das zu Rosch Haschanah und zu Jom Kippur im Mittelpunkt steht und seine Wirkung beweist. Deshalb sind diese Tage die HOHEN FEIERTAGE.

DAS PRIMITIVE WIDDERHORN

Rosch Haschanah ist nicht nur der Anfang des Jahreszyklus. Rosch Haschanah ist der Geburtstag der Welt. Es hat mich immer wieder erstaunt, dass ein einfaches Widderhorn DAS Symbol für den Geburtstag der Welt sein soll und die ganze Gemeinde, mit einhaltenem Atem, in seinen Bann zieht. Wären wir nicht von klein auf daran gewöhnt gewesen, hätten wir das höchstwahrscheinlich nie akzeptiert.

Und wenn es wahr ist, dass das Schofar zu Rosch Haschanah so herausragend und unverzichtbar ist, hätten die Talmudisten uns auf die Frage eine Antwort geben müssen, wieso die meisten Vorschriften, die die Arten und Anzahl der Schofar-Töne betreffen, ausgerechnet aus den Bestimmungen für das fünfzigste Jubel-Jahr in Leviticus 25:9 hervorgehen und nicht für sich eigenständig geregelt werden durch Rosch Haschanah selber (siehe B.T. Rosha Hashanah, 4).

Kurz vor dem Shofarblasen lesen wie einen Psalm, der den Kindern von Korach, dem Erzfeind von Moshe, gewidmet ist. Welches Vorrecht haben sie an Rosch Haschanah? Und weshalb blasen wir so viele und so unterschiedliche Töne? Würde nicht ein einziger Ton:  TEKIA  genügen?

Der Talmud lehrt, dass wie so viele Töne blasen, um „den Satan zu verwirren“

Wer ist dieser Satan? Und wieso bläst nur EIN Mann? Wäre es nicht besser gewesen, wenn jeder für sich selber blasen würde?

Auf das Leben…….

An Rosch Haschanah feiern wir das Leben selber. An Rosch Haschanah wurde mit dem ersten Menschen die ganze Welt erschaffen.

Alles, was mit Leben versehen wurde, ist an diesem Tag gleich: Juden, Nicht-Juden, die Tier- und die Pflanzenwelt. Einmal im Jahr haben wir alle am gleichen Tag Geburtstag.

Genau so wie sich Menschen  verbunden fühlen, die am selben Tag Geburtstag haben, fühlen wir uns zu Rosch Haschanah als Einheit mit der gesamten Schöpfung und mit dem Schöpfer dieses Universums. An diesem Geburtstagsfest der Welt fühlen wir uns dazu gehörend zu allem, was erschaffen wurde.

Die Theorie klingt gut, aber die Praxis des täglichen Lebens mit der Eifersucht, dem Kampf ums Überleben, der Konkurrenz und des Wettbewerbes, drückt uns mit unserer Nase auf die Zerbrechlichkeit unseres menschlichen Daseins. Alle Vorschriften und Bräuche von Rosha Hashanah sind dazu ausgerichtet, um das Gefühl der Einheit mit dem Rest der Schöpfung her zu stellen.

Die Einheit und Verbundenheit entspringen und fliessen aus der Einheit mit HaSchem, wogegen Satan das Symbol bedeutet für Uneinigkeit, Disharmonie und Streit.

Einheit als der wahre Sinn, als die wahre Bedeutung des Schofar, entstammt nicht nur dem Midrasch.

Es steht selbst deutlich in der Thora, in Numeri 10:1-10, wo das Volk den Auftrag erhält, die Teki´a und Teru´a –Töne zu blasen, wenn es als eine Einheit erscheinen soll.

JUBELJAHR

Die Vorschriften für das Schofar-Blasen werden aus dem Schofar-Blasen für das Jubeljahr abgeleitet, in dem aller Landbesitz zu den ursprünglichen Eigentümern zurückkehrt, alle Sklaven in die Freiheit entlassen werden und alle Schulden ungültig werden.

Alle Trennwände zwischen reich und arm, zwischen Chef und Mitarbeiter, verschwinden. Das Jubeljahr ist ein Jahr der sozialen Einheit. Der Psalm von Korach`s Söhnen verbreitet inhaltlich den gleichen Geist. Korach war der erste jüdische Rebell gegen die Autorität von Moshe. Er säte Zwietracht innerhalb des Jüdischen Volkes, im Auftrage von Satan?

Korachs Kinder waren ANDERS, als ihr Vater. Sie durchbrachen das elterliche Beispiel von „Machleukes“ (=unpassendes Gerede) und schlossen Frieden mit Moshe. Eines der am meisten berührenden Augenblicke von Einheit in der Thora.

EINS MIT DER WELT 

Die universelle Einheit – Israel und die Völker – ist im Teru`a-Klang des Schofar angedeutet. Der Talmud zitiert einen Vers aus den Richtern um an zu deuten, dass der Teru`a-Klang ein gebrochener, seufzender Ton sein soll:

„Sie – die Mutter von Sisera – stotterte durch die Gitterstäbe“ (5:28). Der feindliche General Sisera wird von Debora und Barak getötet. Seine Mutter hält Wache und weint. Dem Talmud zu Folge seufzte sie hundert Mal. Deshalb blasen wir 100 Töne. Sisera dürfte wohl der Feind gewesen sein, aber der Schmerz, den eine kinderlose Mutter verspürt, überschreitet die nationalen Grenzen.

Diesen universellen, die gesamte Menschheit umfassenden Aspekt finden wir in der Vorlesung am ersten Tag von Rosch Haschanah wieder, in der wir mit der Vertreibung von Hagar und Jischmail aus dem Haus von Awraham konfrontiert werden.

Jischmail wäre fast gestorben, bevor ein Wunder geschah: vor Hagar`s Augen entsprang ein Brunnen!

Der Midrasch bietet uns einen Einblick in eine himmlische Diskussion zwischen G’tt und Seinen Engeln. Die Engeln weisen G’tt darauf hin, dass Jischmail`s Nachkommen irgendwann mit dem Jüdischen Volk Krieg führen werden. G“tt entschied, das Kind doch zu retten, da es weinte, Reue zeigte und Tschuwa machte.

Das Schofar erinnert uns auch an das Gebet eines verzweifelten Jischmail und einer gebrochenen Hagar. Wie verbissen wir auch sein sollten, es gibt einen Zeitpunkt, an dem die Not sowohl einer jüdischen, wie einer islamischen Mutter in einander fliesst.

ALLE MENSCHEN WERDEN BRÜDER !

Aber Rosch Haschanah symbolisiert zugleich somit die Einheit mit der gesamten Schöpfung. Aus dem Horn eines Widders erklingt das Verlangen aller Geschöpfe nach Leben, von ganz hoch bis ganz tief.

Die Botschaft des Schofar ist ein Gefühl der Einheit. Letztendlich ist sie die Einheit mit G“tt, die uns bindet und auf die wir uns an Rosch Haschanah alle aus richten. Die Gebete besagen von „jedem Geschöpf, das begreift, dass G“tt es schuf“ (AGUDA ACHAT) dass es der Eine ist, der uns alle verbindet und bei wem wir alle gleich sind.

Sollte jeder seinen eigenen Schofar geblasen haben, dann würden alle auf unterschiedlichen Frequenzen ihre eigene Botschaft vermitteln wollen. Das war nicht die Absicht an Rosch Haschanah.

Wenn wir nur EINEM Schofar-Ton zuhören, ist die Einheit in der Synagoge wahrhaftig spürbar.

 

© Oberrabbiner Raphael Evers