Die Geschichte des Jiskor-Gebetes ist besonders beeindruckend, gerade jetzt, wo es eine zutiefst emotionale Bedeutung für viele Menschen erhalten hat.
Der Ursprung dieses Gebetes findet sich in der Midrasch-Sammlung Sifre wieder (Schoftim Devarim 21:5), wo im dafür zuständigen Abschnitt das Händewaschen in Unschuld beschrieben wird, wenn ein Mordopfer zwischen zwei Städten gefunden wird.
Die Ältesten der Stadt, die sich am nähesten zum Mordopfer befindet, sagen dann gemeinsam: „Bringe Sühne Deinem Volke Israel, das Du befreist hast, G“tt, und verbreite kein unschuldiges Blut in die Mitte Deines Volkes Israel“. Auf diese Weise wird das Blut gesühnt.
Als Kommentar auf dieses mündliche Prozedure besagt der Midrasch, dass auch die Toten Sühne benötigen – selbst Verstorbene, die schon vor langer Zeit dahingegangen sind, reichend bis zur Zeit unserer Ur-Ur-Urahnen, die G“tt aus Egypten befreit hatte, 3333 Jahre zurückliegend.
Die Taten unserer Vorfahren beeinflussen unser Verhalten und unser Verhalten wird auf seine Art wieder die Lebensweise unserer Kinder und Enkelkinder beeinflussen.
Dem selben Gedanken kann man in B.T. Horajot 6a begegnen, während der Midrasch Tanchuma (Anfang von Ha’asinu) dazu ergänzt, dass man “aus diesem Grund den Brauch pflegt, an Jom HaKippurim die Namen der Toten zu nennen und zu ihrer Erinnerung Tsedaka (Wohltätigkeit) ausübt“.
Auch Rabbi Ja’akov Emden (18.es Jahrhundert) betont, dass „Tsedaka eine wichtige Tat ist, die die Neschama (die Seele) aus dem Gehinnom – der Hölle – rettet“.
Rabbejnu Bachja ibn Pakuda (14.es Jahrhundert) ergänzt hierzu, dass Gaben und Almosen für die Verstorbenen nützlich sind, besonders wenn die eigenen Kinder diese für das Seelenheil dieser Verstorbenen opfern (siehe weiter Schulchan Aruch, Orach Chaim Ende 621). Tsedaka ist wissentlich wichtiger als das Gebet.
Mahari Weil (15.es Jahrhundert) erklärt diesbezüglich, dass der eigentliche Name des Grossen Versöhnungstages nicht Jom Kippur ist, sondern Jom Kippurim – der Tag der Versöhnungen, in Plural:“ Es ist eine Versöhnung für die Lebenden und für die Toten“.
Nicht ganz eindeutig steht fest, wann der Text für Jiskor formuliert wurde. Seit den Kreuzzügen – mit all dem Blutvergiessen und Leid – hat man Jiskor auch an den drei Jomim-Towim, den Hohen Feiertagen, eingeführt. In der Synagoge ist es dann Brauch, Kerzen an zu zünden „zur Erhebung der Seele“.
Nachdem man verstorben ist, löst sich die Seele vom Körper und Jiskor leistet hierfür Kappara, Sühne.
Jiskor lässt dogmatische Ungewissheiten vermuten, wie die weitere Existenz der Seele, losgelöst vom Körper und das Wiederauferstehen der Toten.
Bevor wir mit diesen mystischen Gegebenheiten fort fahren, zunächst einige
HALACHISCHE EINZELHEITEN
Jiskor hat seinen Weg auch feststellbar in den jüdischen Vorschriften gefunden, um „während des Trauerjahres und am Geburtstag des Sterbedatums (Jahrzeit) einer als Israelit verstorbenen und nach Jüdischem Brauch begrabenen Person ein Licht an zu zünden und es angezündet zu lassen und an festgelegten Zeiten das Gebet Jiskor für dessen Seelenruhe zu sprechen unter den in den nachfolgenden Einzelheiten festgelegten Voraussetzungen usw.“
In den frühesten Texten werden die Namen der Verstorbenen aufgeführt.
Bei den Askenasischen (westlichen) Juden wird dem eigenen Namen der Name des Vaters des Verstorbenen hinzugefügt, aber bei den Sefarden – Orientalische Juden – wird der Name der Mutter nach dem Eigennamen des Verstorbenen genannt.
Obwohl die „Aufzählung der Seelen“ hauptsächlich öffentlich erfolgt, kann man auch zu Hause das „Maskir Neschommes“ sprechen – da hierzu kein Minjan (ein Minimum von 10 religiös mündigen Männern) erforderlich ist.
In der Synagoge ruft der Gabbai (Synagogen-Vorstand) oder der Kantor, kurz vor der Rezitation dieses Gebetes, laut das Wort „JISKOR“, um diejenigen daran zu erinnern, die Synagoge zu verlassen, von denen ein Elternteil noch am Leben ist.
Dieses muss erfolgen, um unnötige Eifersucht zu vermeiden oder da Kinder, die zwar noch ein Elternteil haben aber das Gebet nicht mitsprechen können, nicht den Eindruck erwecken, dass sie sich nicht mit dem Gebet identifizieren.
Heutzutage unterscheiden wir unterschiedliche Fassungen von Jiskor, die von den Umständen abhängen (wie z. B. am Sterbetag oder an Jahrzeit).
Es kann von der Bima gesprochen werden – erhöhter Teil in der Synagoge, auf dem aus der Thora vorgelesen wird – aber nicht nachdem jemand aufgerufen wurde und ein Mischeberach gesagt wurde (bei diesem Jiskor wird den Name des Vaters des Verstorbenen genannt). Erst später – nach Hanoteen Teschua – kann dieses jedoch auf Bitte wohl erfolgen.
Das Jiskor kann auch vom Platz des Kantors gesagt werden und zwar an Werktagen nach dem Morgen- und Abendgebet, im Anschluss an dem G“ttesdienst und nach ein (kurze) Vorlesung von Mischnajot. Bei diesem letzten Jiskor wird der Name der Mutter genannt.
Author: © Oberrabbiner Raphael Evers