Die Parscha Wajigasch lehrt uns eine wichtige Lektion über Verantwortung, Bruderliebe und Barmherzigkeit.
Wir sehen, wie Josef, der Zaddik, den bedeutsamen und emotionalen Moment bewältigt, in dem er seine wahre Identität seinen Brüdern offenbart. Trotz der Schwierigkeiten und des Leids, die er durchmachen musste, wählte Josef einen sensiblen und weisen Umgang, ohne seine Brüder vor den Ägyptern bloßzustellen oder zu demütigen. Er befahl: „Lasst alle von mir weggehen“ und offenbarte sich seinen Brüdern in einem privaten, familiären Moment.
Die Botschaft Josefs ist eine Botschaft wahrer Barmherzigkeit. Er verstand, dass die Demütigung seiner Brüder das familiäre Band zerstören könnte.
Ramban (Nachmanides, 12. Jahrhundert) erklärt dazu: Das Ziel, die anderen wegzuschicken, war, zu verhindern, dass sie von dem Verkauf hören, was für die Brüder eine Schande und für ihn selbst ein Stolperstein gewesen wäre. Die Ägypter könnten sagen: „Das sind Verräter! Sie haben ihren eigenen Bruder verkauft und auch ihren Vater verraten. Was würden sie nicht mit dem Pharao und seinem Volk tun? Sogar Josef könnten sie nicht länger vertrauen.“
Josef entschied sich für Frieden und Versöhnung. Dies ist eine wichtige Lektion für uns: Unsere Verantwortung reicht über uns selbst hinaus und umfasst auch diejenigen um uns herum.
Josef lehrt uns auch die Kraft von Führung – eine Führung, die nicht aggressiv ist, sondern verständnisvoll und empathisch. Er erkannte die verletzliche Situation seiner Brüder und handelte vorsichtig. Als er sagte: „Ich bin Josef“, enthüllte er nicht nur seine Identität, sondern erinnerte auch an die familiären Bande und die brüderliche Liebe.
Das Verhalten Josefs zeigt, dass wir selbst in emotional aufgeladenen Momenten unseren Werten treu bleiben müssen. Selbst als er seinen Brüdern gegenüberstand, die ihm so viel Schmerz zugefügt hatten, wählte er den Blick nach vorn, anstatt in der Vergangenheit zu verharren. Er sorgte für seinen Vater und seine Familie und plante, ihre Einheit für die Zukunft zu sichern.
Unsere weisen Lehrer (Chazal) lehren uns hieraus eine Einsicht über die göttliche Führung in der Geschichte des Wiederaufbaus des Volkes und der Rückkehr der Gegenwart HaSchems nach Zion: „Wenn Gott seine Gegenwart Israel offenbart, tut er dies schrittweise, weil das Volk nicht in der Lage wäre, all das Gute auf einmal zu erfassen.“
Lernt dies von Josef: Als er sich seinen Brüdern offenbarte, sagte er (Genesis 45:4): „Ich bin Josef, euer Bruder.“ Seine Brüder waren fassungslos und konnten ihm nicht antworten (Genesis ebenda).
Wie viel mehr gilt dies für HaSchem (G’tt). Deshalb offenbart Er sich Stück für Stück, so wie wir es heute in den Wundern und wunderbaren Ereignissen sehen, die uns täglich umgeben.
Das Leben ist eine Reise, die sich Schritt für Schritt vor uns entfaltet. So wie Josef seine Identität seinen Brüdern allmählich offenbarte, lernen wir, dass jeder Schritt, den wir mit Absicht und Glauben gehen, uns näher an unsere spirituellen Ziele bringt.
© Oberrabbiner Raphael Evers