Wajigasch: Josef herrschte über Ägypten und nicht umgekehrt

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ZUM ERSTAUNEN DES HEIDNISCHEN ÄGYPTENS BEHIELT JOSEF SEINE IDENTITÄT

Josef herrschte über Ägypten und nicht umgekehrt.

 

Inhalt der Parscha

Jehuda hält die längste Rede in der Tora. Er plädiert nachdrücklich für die Freilassung Benjamins und bietet sich selbst als Sklave an Benjamins Stelle an, um dem alten Vater das Leid zu ersparen, einen weiteren Sohn dessen geliebten Frau Rachel zu verlieren. Josef versteht daraus, dass die Brüder wirklich teschuwa (Reue) über seinen Verkauf getan haben und gibt sich zu erkennen. Die Brüder sind schockiert, aber Josef tröstet sie, denn das war offensichtlich G’ttes Plan. Auf Anweisung des Pharaos schickte Josef die Brüder nach Hause und lud die ganze Familie ein, in das Land Goschen zu kommen und dort zu leben. Ja’akow konnte es nicht glauben, aber schließlich ließ er sich überzeugen. Die Karawane zieht ab. Ja’akow hat eine nächtliche Vision, in der G’tt ihm sagt, er solle keine Angst haben, nach Ägypten zu reisen, denn G’tt werde Ja’akow und die Seinen zu einer großen Nation machen. In der genealogischen Liste werden 70 Personen aufgeführt, die nach Ägypten zurückgehen. Ja’akow ist nach 22 Jahren in großer Freude wieder mit Josef vereint. Josef stellt Ja’akow und seine fünf Brüder dem Pharao vor, nachdem er sie angewiesen hat, was sie sagen sollen. Ja’akow segnet den Pharao. Josef kümmert sich gut um seine Familie und wendet sich dann dem hungernden Volk zu.

 

„Mein Sohn Josef ist noch am Leben!“ (Bereschit/Gen. 45:28)

Jehuda setzte sich nachdrücklich für die Freilassung seines jüngsten Bruders Benjamin ein. Gerührt konnte Josef sich nicht mehr zurückhalten. Schließlich offenbarte Josef seinen Brüdern seine wahre Identität und sagte ihnen: „Nicht ihr habt mich hierhergeschickt, sondern G’tt. Er hat mich zum ‚Vater‘ des Pharao gemacht, zum Herrn über sein ganzes Haus und zum Herrscher über das ganze Land Ägypten“ (Bereschit/Gen 45,8). Er sagt seinen Brüdern, sie sollen nicht traurig sein über das, was sie verursacht haben. Alles, was geschah, wurde von Josephs persönlicher göttlicher Führung inspiriert. Aber wie konnte Josef behaupten, er sei „zum Herrscher über ganz Ägypten ernannt“ worden?

 

Nur der Vizekönig

Was Josef hier sagt, entspricht nicht ganz der Wahrheit. Wie die Tora selbst berichtet, war Josef in der ägyptischen Machthierarchie nur der zweite Mann. Der Pharao blieb ohne Frage in der Verantwortung. Er hatte viele staatliche Aufgaben an Josef delegiert, aber ausdrücklich erklärt, dass er weiterhin der König von Ägypten sei. Auch der Bericht über die Brüder, als sie zu Ja’akow zurückkehrten, scheint unvollständig zu sein. Sie berichteten Ja’akow nur einen Teil der Botschaft Josefs: „Josef lebt noch, und er ist Herrscher über ganz Ägypten“ (Bereschit/Gen 45,26). Sie erwähnten nicht, dass G’tt Josef „zum ‚Vater‘ des Pharaos und zum Herrn über sein ganzes Haus“ gemacht hatte. Warum verschweigen die Brüder diese Details?

 

Jakob hat kein Interesse an Josefs politischem Erfolg

Wer Jakob ein wenig kennt, weiß, dass er an Josefs politischer und weltlicher Karriere nicht interessiert war. Alles, was Ja’akow wissen wollte, war, ob er sein Judentum beibehalten hätte oder nicht. Nachdem Ja’akow die gute Nachricht gehört hatte, rief er: „Mein Sohn Josef lebt noch! Damit meinte er, dass sein Sohn in zweierlei Hinsicht in seine Fußstapfen getreten war:

– Josef wurde als kleiner Junge verkauft, aus seiner Umgebung gerissen und hatte keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. Ja’akow glaubte, dass es unter diesen Umständen unmöglich war, das Judentum zu erhalten. 22 Jahre lang als einziger Jude unter Millionen von Ägyptern zu leben und trotzdem Jude zu bleiben, schien ihm eine fast übermenschliche Leistung. Ägypten war für seine Sittenlosigkeit und Unmoral bekannt, die das Gegenteil aller Jüdischen Moral war.

-Josef hatte nicht nur seine Identität bewahrt, sondern war auch als Mensch auf der Ebene des Bewusstseins und der Menschlichkeit G’ttes enorm aufgestiegen. Dies kam in seinem Verhalten gegenüber seinen Brüdern zum Ausdruck. Wie hat er das geschafft? Er distanzierte sich von den Absichten seiner Brüder, die ihn verkauft hatten. Josef schaute nur auf die Taten seiner Brüder, die sich letztendlich zum Guten gewendet haben. Er verurteilte jedoch nicht ihre Absichten.

 

Wer kontrollierte wen?

Hier geht es der Tora nicht um Staatsführung, sondern einzig und allein darum, ob Josef in der Lage war, seine Identität trotz der völlig anderen Umgebung zu bewahren. Wer kontrollierte wen? Hatte Ägypten die Kontrolle über Josef oder war Josef der Chef in Ägypten geblieben? Wurde er nicht von der götzendienerischen Kultur beeinflusst? Das ist es, was die Brüder betonen wollten. Josef blieb von seiner polytheistischen und unmoralischen Umgebung unbeeindruckt. Der Rest war nicht von Interesse! Was für ein geistiger Riese muss Josef gewesen sein, um ganz er selbst zu bleiben. Eine wichtige Lektion für die kommenden Wochen, in denen unsere Umgebung ein ganz anderes Fest feiert und manche Menschen versucht sind, beide Feste unter dem Deckmantel der Gemütlichkeit zusammen zu feiern.

 

 

WER SOLLTE ZU WEM KOMMEN? JOSEF ZU SEINEM VATER JA’AKOW ODER JA’AKOW ZU JOSEF IN ÄGYPTEN

 

Respekt für seinen Vater

Wenn wir von der „Ehrfurcht vor Vater und Mutter“ aus den Zehn Geboten (Schemot/Exodus 20) sprechen, wäre es für Josef sicherlich angemessen gewesen, nach Israel zu reisen, um seinen Vater Ja’akow zu besuchen. Ja’akow war damals 130 Jahre alt (Bereschit/Gen. 47:9). Natürlich ist es nicht angebracht, dass Sein alter Vater zu ihm reist (vor allem in jenen Tagen, als das Reisen sehr unbequem und oft gefährlich war). Josef schickte zwar Transportmittel nach Israel (agalot – Wagen, Bereschit/Gen 45:27), aber dennoch blieb mir die Frage im Hinterkopf, warum Josef sich nicht die Mühe machte, nach Kanaan zu reisen, um seinem Vater die Ehre zu erweisen, ihn nach 22 Jahren der Trennung persönlich zu besuchen und ihn so – vielleicht schneller – aus seinem furchtbaren Elend zu befreien. Wäre er persönlich erschienen, wäre das alles viel natürlicher gewesen (auch wenn es für Ja’akow vielleicht ein großer Schock gewesen wäre).

 

Wagen und der wiederbelebte Geist Jaakows

Die Brüder kamen nach Israel, das übrigens damals Kanaan hieß (Bereschit/Gen 45): 25Sie zogen aus Ägypten aus und kamen wieder zu ihrem Vater Ja’akow ins Land Kanaan. 26Da sagten sie ihm: Josef lebt! Er ist sogar Herrscher über das ganze Land Ägypten! Da verließ ihn sein Herz, denn er glaubte ihnen nicht (Dies geschah aus unerwarteter Freude und großem Erstaunen, denn Ja’akow hatte seit vielen Jahren nichts mehr von Josef gehört). 27Als sie ihm aber alle Worte überbrachten, die Josef zu ihnen gesagt hatte, und als er die Wagen sah, die Josef hatte kommen lassen, um ihn zu tragen, erholte sich der Geist ihres Vaters Ja’akow.

Die Abfolge der Ereignisse scheint auf etwas hinzudeuten, das nicht klar ausgedrückt wird. Nachdem Josef die Wagen geschickt hatte, erwachte Ja’akows Geist wieder. Aber was haben die Streitwagen mit Ja’akows Freude zu tun?

 

Wasserdichter Beweis

Unsere Weisen (Bereschit Rabba 94; Tanchuma) weisen darauf hin, dass diese Streitwagen sicherlich etwas mit dem wiedererweckten Geist Ja’akows zu tun haben. Die Streitwagen waren nicht nur ein Transportmittel, sondern auch ein Hinweis darauf.  Das hebräische Wort für Wagen (agala) zeigt eine Verwandtschaft mit dem Wort für Kalb (egla). Unsere Weisen erklären, dass die Wagen eine Anspielung auf die Episode der Egla arufa sind (das Kalb, dem das Genick gebrochen wird, wenn ein Mensch auf der Straße ermordet aufgefunden wird und der Schuldige unbekannt ist, siehe Dewarim/Dtn. 21: 1ff). Diese ganze Lehre von der Egla arufa – was zu tun ist, wenn man von einem Fremden getötet wird – hatte Josef bei seinem Vater Ja’akow gelernt, kurz bevor er von seinen Brüdern entführt und nach Ägypten gebracht wurde. Nur Ja’akow und Josef wussten, was sie zuletzt gelernt hatten. Ja’akow verstand den Hinweis, und deshalb war dies für ihn ein „wasserdichter Beweis“ dafür, dass Josef noch am Leben war.

 

Bei uns in Ägypten ist alles in Ordnung, komm und sieh

Aber es gibt auch andere mögliche Erklärungen für den Zusammenhang zwischen den Wagen und Ja’akows Überzeugung, dass Josef tatsächlich noch am Leben war und seinen Glauben im götzendienerischen und unmoralischen Ägypten nicht verloren hatte. Die Tatsache, dass Josef wollte, dass Ja’akow nach Ägypten kommt, war für Ja’akow ein Beweis für Josefs geistige Reinheit und Aufrichtigkeit. Wenn Josef dort, im verlockenden Ägypten, irgendetwas von Ja’akows Vorwürfen zu befürchten gehabt hätte, weil er sich nicht ganz an das Judentum hielt, dann hätte er alles getan, um Ja’akow aus Ägypten heraus und in Israel zu halten. Josef hätte dann keine Notwendigkeit gehabt, Vater Ja’akow nach Ägypten zu bringen.

 

Zuversicht, dass auch seine Kinder und Enkelkinder während der langen Sklaverei nicht völlig in der ägyptischen Kultur aufgehen würden

Aber gerade wegen der Wagen Josefs und seiner Bitte an Ja’akow, nach Ägypten zu kommen, verstand Ja’akow, dass Josef seine religiösen Angelegenheiten in Ägypten in Ordnung hielt. Josef hatte seine Jiddischkeit mit Bravour gemeistert, trotz aller negativen Einflüsse von außen. Ja’akow verstand daraus, dass es tatsächlich so war, dass „Josef über das ganze Land Ägypten herrschte“ (Bereschit/Gen. 45,26). Das war das Wichtigste für Ja’akow: Josef hatte seine Jiddischkeit nicht verloren! Und das gab Ja’akow die Zuversicht, dass auch seine Kinder und Enkelkinder während der langen Sklaverei nicht völlig in der ägyptischen Kultur aufgehen würden. Eines Tages würden sie aus Ägypten herauskommen und die Tora auf dem Berg Sinai empfangen! Und das war der Punkt…

 

 

Warum müssen Josef und Benjamin beide über die Zerstörung verschiedener Heiligtümer im Gebiet des jeweils anderen weinen?

 

Frage:

Kvod HaRav Hier meine beide Kommentare zu Ihrer Erklärung verschiedener Aspekte von Parscha Vajigasch.

Frage: Meine Hauptfrage lautet: Warum werden die Gefühle von Josef und Benjamin nicht einfach als menschliche Gefühle nach einer langen Trennung beschrieben? Warum müssen beide über die Zerstörung verschiedener Heiligtümer im Gebiet des jeweils anderen weinen?

 

  1. Raschi in Ehren, doch dieser Interpretation folge ich nicht.

Viel eher gehe ich von ganz normalen menschlichen Gefühlen aus: Die Familie war erleichtert, nach so langer und schwieriger Zeit (das schlechte Gewissen muss die Brüder schwer geplagt haben! Insbesondere auch wegen der steten, unheilbaren Trauer ihres Vaters Jakob!) wieder zusammen zu sein.

Auch die Aussage, jeder solle sein Leben soweit verbessern, dass wir für würdig befunden werden können, dass der dritte Tempel gebaut wird, halte ich für bedenklich.

Der Aussage selbst widerspreche ich zwar nicht: Das sollten wir in der Tat anstreben! Doch ich halte sie für gefährlich.

Die Chance, dass alle wir Juden uns auf dieses Niveau hochbringen, ist – realistisch betrachtet – doch eher klein!

Schauen wir uns doch diese weltweit ca. 15 Millionen einmal an: Orthodox und observant ist deutlich weniger als die Hälfte!

Zwar ist ihre Zahl in Israel am Steigen, doch im Gallut sieht es eher ernüchternd aus. Deutlich sehen wir das in den USA, wo ein Grossteil der Juden das Judentum bereits verlassen hat, sich einer Mischform von Judentum und Christentum zuwendet, Mischehen eingeht, ein völlig säkulares Leben führt und/oder sich in vielen Belangen gegen Israel positioniert…

So betrachtet, muss uns diese Aussage eher deprimierend stimmen: „Wann wird der Messiach kommen? Wenn wir weiterfahren wie bisher: NIE!“

Unsere Aussagen sollten uns jedoch OPTIMISTISCH stimmen, zuversichtlich, und nicht deprimiert. Denn ohne Optimismus und Zuversicht fehlt es uns an Motivation!

Mit Verlaub, lieber Rav Evers: Das sind meine Gedanken. Vielleicht wollen andere sich auch äussern. Ich finde es jedenfalls gut, wenn in einer jüdischen Gemeinde lebhaft debattiert wird. So bin ich das aus meiner Gemeinde in Israel auch gewohnt.

Solange: Schabbat Schalom nach Europa!

 

2. In der Zeit gab es keine Tempel, ja nichtmal einen Mischkan und so halte ich es als unverstaendlich und sehr weit hergeholt, sie wuerden um Tempelverlust weinen. Das Weinen entspricht der typischen Gefuehle in so einer Situation, als etwas anderes kann ich das nicht sehen. Wenn Raschi meint, das Weinen haette andere Gruende, wird er das sicher auch entspr. erklaert haben, damit es plausibel wird. Aber eine Erklaerung fehlt hier vollstaendig. Schade.

 

Antwort:

Raschi denkt nicht an sich selbst. Er zitiert nur den Talmud oder Midrasch, von dem er meint, dass er hier eine gute und ausreichende Erklärung gibt.

Alle Ihre Argumente sind richtig, scheitern aber an einem Punkt: Warum muss die Tora eine natürliche und tränenreiche Begegnung nach so vielen Jahren der Trennung so detailliert beschreiben? Natürlich spielen hier viele menschliche Emotionen eine Rolle, aber sie sind selbstverständlich.

Die Tora ist kein Familienroman, wie es der jüdischen Familie im Laufe der Jahre ergangen ist, sondern ein Buch der religiösen Unterweisung. Das Wort Tora bedeutet religiöse Erziehung. Nur sehr hochrangige religiöse Menschen spielen dabei eine führende Rolle. Warum wird das Auf und Ab all der Millionen anderer Menschen, die zu dieser Zeit gelebt haben, nicht erwähnt? Denn das passt nicht in den Rahmen und Zweck der Tora.

Die Tora beschreibt nur, wie man mit verschiedenen Formen von Wohlstand und Widrigkeiten auf religiöse Weise umgehen kann. Die Menschen, die in der Tora beschrieben werden, sind sicherlich nicht Charles Heston aus den Zehn Geboten. Dass ihre Reaktion erwähnt wird, muss in einem religiösen Sinne etwas für die Nachkommenschaft, für die Zukunft von Klal Jisraeel und die Zukunft der Religion bedeuten.

Josef und Benjamin repräsentieren zwei Formen religiöser Erfahrung und zwei Heiligtümer (G’ttes Königreich auf Erden), und die einzige Frage im Leben dieser Prototypen religiöser Menschen ist, wie sie die Zukunft der Errichtung von G’ttes Königreich auf Erden wahrnahmen und voraussahen. Sie sahen, dass sinat chinam, Hass auf nichts und Bruderzwist, die Tempel völlig zerstört und konnten so ihre persönlichen Gefühle mit den Gefühlen der Schechina verbinden, wie wir einander und G’tt behandeln.

In diesem Zusammentreffen von persönlichen und volkstümlichen Ereignissen mit hohem religiösem Gehalt gelang es beispielsweise Josef und Benjamin, ihre persönlichen und zukunftsorientierten Emotionen von Klal Jisrael als Träger des Namens G’tt und ihre religiösen Gefühle zu synchronisieren und in Einklang zu bringen. Wir müssen immer wieder versuchen zu fühlen, was z.B. die vertriebene Schechina fühlen muss, wenn durch einen Bruderzwist das Heiligste des jüdischen Volkes – seine Tempel – zerstört werden.

Dieser Höhepunkt des Zusammenflusses von persönlichen Emotionen und religiösen Gefühlen und Geistesbewegungen, die die ganze Nation betreffen, jetzt und in der Zukunft, wurde nur von unseren Patriarchen und ihren Kindern richtig erkannt. Deshalb stehen sie in der Tora und nicht ich oder Du.

 

Author: © Oberrabbiner Raphael Evers

Foto: Josef wird von seinen Brüdern erkannt | © 1863 Léon Pierre Urbain Bourgeois