Noach

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KEHRE BEGEISTERT ZUR WIRKLICHEN WAHRHEIT ZURÜCK

„Noah entweihte sich zu einem irdischen Menschen und pflanzte einen Weinstock“ (9:20)

Die Hohen Feiertage, Rosch Haschana (Neujahr) und Jom Kippur (Grosser Versöhnungstag), liegen nun hinter uns. Wir befragen uns selber, was wir hiervon für die kommende Zeit mitnehmen. Haben wir alle unsere besonderen religiösen Begegnungen mit G“tt und mit unseren Mitmenschen bereits vergessen, sobald wir die Türe unserer Sukka (Laubhütte) hinter uns zu gezogen haben?

Vielleicht können wir von Noah etwas lernen. Rav Schlomo Wolbe (zwanzigstes Jahrhundert, Jerusalem), schildert, wie Noah während der Sintflut in der Arche mit allen Tieren sehr altruistisch zugange war und laufend im Gespräch mit dem Allmächtigen blieb. Noah blieb auch während der grössten Katastrophe ein idealistischer und spiritueller Mensch.

Er beschloss (das zeigt sein grosses Vertrauen in G“tt) nunmehr, als die Erde wieder trocken da lag, Wein anzupflanzen. Dabei nahm er das Risiko auf sich, betrunken zu werden (In Jiddisch sagen wir dazu: schikker zu werden).

Das geschah auch und hatte verheerende Folgen. Wenn jemand grosse spirituelle Momente erlebt und anschliessend sich entscheidet, etwas zu tun, das ihn oder sie degradiert, „entweiht“ er oder sie sich selber von dem, was er oder sie als das Wahre empfunden haben.

 

Bloss nicht abrutschen!

Um so einen Absturz von der spirituellen Ebene zu vermeiden, haben unsere Weisen uns beauftragt, sofort nach Jom Kippur mit dem Bau der Sukka zu beginnen. Haltet das hohe Niveau von Idealismus, Verzeihungsbereitschaft und gehobener Gerechtigkeit voll aufrecht! Bloss nicht abrutschen!

In der Nacht nach Jom Kippur- Ausgang kehren wir wieder zur irdischen Wirklichkeit zurück. Vergleiche es mit einem Space Shutle, das zur Erde zurückkehrt. Gelangt das Space Shutle in einen verkehrten Winkel in die irdische Atmosphäre, kann es durch die dabei entstehende Hitze durch Reibung verglühen. So kann auch unsere gesamte Erfahrung, die uns zu Jom Kippur zu teil wurde, zerstört werden, wenn wir es nicht schaffen, beim Abstieg bezw. Rückkehr in den Alltag, diesen durch besonders schöne Empfindungen, die uns am Grossen Versöhnungstag gelangen, mitzunehmen. Die „Nachbereitung“ ist mindestens genau so wichtig, wie die Vorbereitung auf diesen heiligen Tag.

 

drei Stunden Zeit für jedes Gebet

Unsere Vorfahren nahmen sich drei Stunden Zeit für jedes Gebet:

Eine Stunde für die Vorbereitung, eine Stunde DAWWENEN (Beten) und eine Stunde Zeit um das hohe Niveau der Gebete in die normale irdische Betrachtungsweise hinüber zu leiten.

Sie hatten verstanden, wie wichtig es sei, diese so gehobene Stimmung nicht „irgendwo im luftleeren Bereich“ zurückzulassen, sondern sie ins hier und heute mit zu nehmen.

Noah war ein Tzadik (ein Gerechter in seiner Zeit), d.h. in Vergleich zu seiner damaligen Generation. Andere meinen, dass Noah ein Tzadik war trotz seiner Generation. Noah wird trotz allem kritisiert. Er war in der Tat ein Tzadik, da er genau das tat, was von ihm erwartet wurde.

Aber er war nicht im Stande, seine hohe spirituelle Berufung seinen Zeitgenossen in ihrer geistigen Beschaffenheit zu vermitteln, ja, zu übertragen. Er blieb „in der Luft hängen“ und erreichte den einfachen Menschen nicht. Auf Erden zurückgekehrt, war seine Spiritualität verschwunden. Noah wurde „entweiht“ und begann zu trinken…

EIN GUTER CHARAKTER GEHT DER THORA VORAUS

 

Der Prophet Jesaja (54:9) nennt die Sintflut „die Wässer von Noah“ oder besser gesagt: Noah`s Flut, da er Noah persönlich für diese grosse Vernichtung und Zerstörung verantwortlich macht. Der berühmte italienische Erklärer Owadia Sforno (er lebte von tausendvierhundertfünfundsiebzig bis tausendfünfhundertundfünfzig) vermerkt, dass es Noahs Fehler war, dass er seine Zeitgenossen nicht auf ihre moralischen Verfehlungen hingewiesen hatte.

 

Judentum benötigt ein festes ethisches Fundament

„Derech erets kadma laTora“ –  schreibt Sforno. Gute Eigenschaften, anständiger Charakter und ehrliches Benehmen gehen der Thora voraus. Ohne diese Merkmale wird es nicht möglich sein, ein jüdisches Leben und ein Leben gemäss der Thora zu erreichen. Judentum und Thora benötigen ein festes ethisches Fundament. Sonst könnte das Wachstum unserer Persönlichkeit sich nicht entfalten, trotz aller guten Einflüsse, die wir aus der Thora und aus dem Judentum erfahren.

Wenn es uns nicht gelingt, „a Mentsch“ zu werden, werden uns unsere niedrigen Instinkte weiter beherrschen.

 

Alle Tabletts zu Boden gefallen

Maimonides (elfhundertachtunddreissig bis zwölfhundertundvier) führte mal mit einem Philosophen eine interessante Diskussion über die Frage, welcher beherrschende Einfluss das Verhalten eines Tieres lenkt, das heisst die Übung und die Erziehung, die das Tier erhält, oder aber sein Instinkt. Um die Richtigkeit seiner Aussage zu beweisen, dass die ständige Übung das Verhalten des Tieres prägt, dressierte der Philosoph seine Katzen, auf zwei Pfoten aufrecht zu stehen, mit Serviertabletts zu gehen und als Kellner zu fungieren.

Das gelang erstaunlicherweise und Maimonides wurde zu einem Bankett eingeladen, an dem er durch wohlerzogene Katzen, die als Kellner gekleidet waren, bedient werden sollte. Aber Maimonides konnte seine Überzeugung unter Beweis stellen (dass bei Tieren letztendlich der Instinkt die Oberhand behält), indem er während des Banketts einige Mäuse frei lies. Die Katzen stürzten sich auf die Mäuse und liessen dabei ihre Tabletts zu Boden fallen, die hierbei zersplitterten.

 

Möglichkeit zur Selbstbeherrschung

Auch wir Menschen haben niedrigere Verlangen und Instinkte. Der grosse Unterschied zwischen Mensch und Tier liegt jedoch in unserer Möglichkeit zur Selbstbeherrschung.

Wir können unsere Triebe vervollkommenen und steuern. Wenn wir es jedoch nicht lernen, unsere Leidenschaften zu zügeln und uns auf höhere Ziele aus zu richten, werden wir durch unsere animalen Instinkte beherrscht.

Wir können natürlich Theater vorspielen und unserer Umwelt etwas vorgaukeln, wie beeindruckend wir ethisch und moralisch uns gewandelt haben, aber im Kern ändert das in uns nichts. Sobald die Mäuse „losgelassen werden“, verfallen wir wieder in unsere althergebrachte Art, uns zu verhalten, die dem „Volk des Buches“ total unwürdig ist.

 

ein jüdischer Schüler: Charakteränderung

Maimonides besagt, dass ein „Talmid Chacham“ (ein jüdischer Schüler, gleichzeitig Gelehrter) jemand ist, der gute Charaktereigenschaften erworben hat. Es handelt sich nicht so sehr um Kenntnisse, sondern vielmehr um Charakteränderung, im positiven Sinne zu verstehen.

Diese Aufgabe der Charakterveränderung wird durch die Thora nicht so eindeutig vorgeschrieben, da sie voraussetzt, dass sie bereits die Basis des Lebens nach den Vorschriften der Thora bildet. So sehen es zumindest einige Kabbalisten.

Unzucht und Diebstahl waren die Probleme während der Zeit der Sintflut. Es waren die Symptome einer zu kurz greifenden Charakterentwicklung. Noah arbeitete an der Bekämpfung dieser Symptome. Aber es gelang ihm nicht, seinen Zeitgenossen den sie beherrschenden Mangel an guten Eigenschaften aus der Welt zu schaffen.

 

G’tt imitieren

Noah vergass, dass der Mensch den erwünschten Charakter nur entwickeln kann, indem er G“ttes gute Eigenschaften übernimmt bezw. ihnen nachstrebt. Eine verpasste Gelegenheit.

 

INTERESSE FÜR GUTE EIGENSCHAFTEN?

Im Lehrbuch Scha’arej Keduscha (1:2) behauptet der berühmte Kabbalist Rabbi Chaim Vital, dass „gute Eigenschaften keinen Gegenstand der 613 Mitswot (Beauftragungen, Anweisungen) seien, die die Thora vorgibt.

Gute Eigenschaften bilden eine Vorbereitung auf die Erfüllung der 613 Mitswot.

Schlechte Eigenschaften sind schwerwiegendere Fehler als Fehlverhalten, als Verstöße.

Man muss sich vor schlechten Eigenschaften mehr in Acht nehmen als vor Verstößen.

Da gute Eigenschaften die Basis der 613 Mitswot bilden, werden sie in der Thora nicht vermerkt“.

So erklärt Rabbi Chaim Vital, weshalb die Thora anscheinend dem nicht Vorhandensein guter Eigenschaften so wenig Interesse beizumessen scheint.

 

Gute Eigenschaften sind die Vorbereitung auf ein wahrhaftiges Thora-Leben

Ein Mensch kann erst an der Thora partizipieren, nachdem er sich bis zu den guten Eigenschaften durchgearbeitet hat. Erst danach beginnen die Werte der Thora zu wirken.

Hiermit wird auch die Frage beantwortet, weshalb die Thora anfängt, mit

 

  1. der gesamten Schöpfungsgeschichte
  2. danach die Zeitspanne der Sintflut und
  3. der Turmbau zu Babel folgen.

 

Wenn die Thora als das „Buch der Mitswot“ gemeint ist, hätte die Thora mit der ersten Mitswa für das Jüdische Volk, mit dem Auftrag einen Jüdischen Kalender zu erstellen (Anfang des Buches Exodus, Abschnitt 12), beginnen müssen.

Das gesamte Buch Bereschit (Genesis) ist ein großer Lehr- und Lernbereich, der das Entfernen von schlechten Eigenschaften vermittelt und das sich aneignen von guten Eigenschaften.

Das Buch Bereschit wird auch Sefer haJaschar genannt, das Buch der Aufrichtigen, der Erzväter, da sie in herausragender Weise unsere Vorbilder und leuchtenden Beispiele sind.

 

Die drei schlimmsten Eigenschaften sind bereits in einer Aussage von Rabbi Elasar Hakappar beschrieben, die benennt:

  1. den Neid
  2. die Begierde
  3. das Streben nach Ruhm führt den Menschen dazu, den Halt in der Welt zu verlieren (Pirkej Awot 4:21)

Raschi (tausendvierzig bis elfhundertundfünf) gibt drei Beispiele dieser gescheiten Lektion:

-Missgunst ist Eifersucht unter Freunden.

-Begierde ist Unzucht.

-das Streben nach Ruhm ist das Nachjagen nach Befehlsgewalt und Macht.

 

Maimonides (zwölftes Jahrhundert) meint, dass eine Kombination dieser drei Eigenschaften oder selbst nur eines dieser drei Eigenschaften:

  1. den Glauben in die Thora schwächt und
  2. den Menschen auf dem Weg nach Weisheit und Persönlichkeitsentwickelung behindert.

 

Es gibt zwei Arten von Eifersucht und jede Form von Eifersucht kennt unterschiedliche Stufen:

1)    Eifersucht auf die spirituellen, ethischen oder intellektuellen Leistungen eines Anderen.

*Wenn jemand vom edelmütigen Charakter eines Anderen oder von seinem spirituellen Fortschritt in Frustration gerät

*Eine bestimmte Art von Eifersucht ist zu ertragen, wie unsere Weisen das bezeichnen: kinat sofrim tarbè chochma: „Eifersucht unter Gelehrten vermehrt die Weisheit“.

Wenn jemand so heilig und gebildet wie seine Freunde sein möchte und aus Eifersucht versucht, sie zu imitieren, ist das zu tolerieren.

Obwohl diese Art von Eifersucht nicht als Studienmotivation gewünscht ist, ist sie zumindest akzeptabel.

2)    Eifersucht auf den materiellen Vorsprung eines Anderen.

  • Die schlimmste Art von Eifersucht ist, dass weniger reiche Personen reichere Menschen nicht leiden können. Auch wenn man selbst reich ist, kann man es nicht ertragen, das Andere reicher sind als einer selber.
  • Er möchte auch reich sein, aber kann den Reichtum Anderer ertragen. Dieses ist die kleinste verwerfliche Art von Eifersucht.

 

Begierde, selbst von erlaubten Vergnügungen, ist für ein langes Leben nicht förderlich.

Zu viel Essen und Trinken kann körperliche Schädigungen verursachen.

Andere zwingen, ihn zu ehren, ist die niedrigste Art von Selbsteinschätzung.

Noch schlimmer ist das Verlangen, für gute Eigenschaften, die man nicht besitzt, geehrt zu werden.

Wenn wir nach Ehre streben, nur um uns besser als ein anderer zu fühlen, sind wir sehr verwerflich tätig.

 

DAS STREBEN NACH EHRUNG VERNICHTET

Rabbi Jisra’eel Salanter (neunzehntes Jahrhundert) vermerkt: „Niemand ist von Anderen abhängiger als Derjenige, der Ehrung und angehimmelt werden sucht. Ruhm ist etwas, der alles, was sich auf seinem Weg befindet, vernichtet.

Auf die Frage eines Chasan, der fragte, wie er sich selber von Hochmut reinigen könne, da ihm täglich viel Ehrung zu Teil wurde, antwortete Rabbi Jisra’eel: „Nimm doch mal den Tallit von Deinem Kopf und schaue nach Hinten, wie sich Dich auslachen“.

NEID, BEGIERDE UND DIE SUCHT NACH EHRUNG

Rabbi Elasar Hakappar sagt:

  1. Der Neid
  2. Die Begierde und
  3. Die Sucht nach Ehrung bringen den Menschen aus der Welt weg (Pirkej Awot 4:21)

 

Kain war auf seinen Bruder Hewel (Abel) eifersüchtig, da G“tt Hewels Opfer wohl und Kains Opfer nicht annahm. Kain ermordete seinen Bruder.

Hiermit zeigt die Thora auf, wie tief man durch Eifersucht und Missgunst sinken kann.

Im Anschluss hieran wir die Generation der Sintflut beschrieben.

Ihr Fehler lag in der Auslebung einer ungebremsten Leidenschaft.

Diebstahl und Unzucht sind die größten Verführungen. Hierdurch verfällt man bis in die tiefsten Täler.

Der Turmbau zu Babel war entstanden durch die Sucht nach Ehrung: „Komm, lass uns einen Turm bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reicht und uns somit einen Namen machen“.

Die drei schlimmsten menschlichen Eigenschaften Eifersucht, Begierde und die Sucht nach Ehrung herrschten über die Menschheit, bis unsere Erzväter Awraham, Jitzhak und Ja’akov kamen.

Awraham zeigte durch seine uneingeschränkte Gastfreundschaft was Chessed, selbstlose Liebe, bedeutet.

Jitzhak war bereit, sein Leben für HaShem, G“tt zu geben, als er sich bei der Akedat Jitzhak, der Aufopferung Jitzhaks, zur Verfügung stellte.

Ja’akov wird die Amud HaThora genannt (Säule der Thora). Er kombinierte die Chessed seines Großvaters Awraham mit der strengen Art und Selbstbeherrschung seines Vaters Jitzhak.

Er schaffte die Grundlage für das Thora-Studium durch seinen ausgeglichenen Charakter.

Sein Sohn Jossef setzte dieses Bauen an einer besseren Welt im seelenlosen Ägypten durch, das qua Technik und Organisation wohl eine hochkarätige Kultur kannte, jedoch trotzdem mit dem Begriff „Nacktheit der Welt“ bezeichnet wird,

Durch seinen heiligen Charakter konnte Jossef in Ägypten über die Unzucht Herr werden.

In der Sklaverei in Ägypten wird das gesamte Jüdische Volk für ein Leben im Sinne der Thora eingehend vorbereitet, besser gesagt: durchgearbeitet bis in die allerletzte Ecke.

 

Author: © Oberrabbiner Raphael Evers

Foto: ©  Gustave Doré: Noah verflucht seinen Enkel Kanaan (links)