Re’eh: Nächstenliebe in einem multikulturellen Umfeld

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„Sieh! Heute lege ich dir Segen und Fluch vor: den Segen, wenn du auf die Gebote HaSchems, deines G’ttes, hörst, die ich dir heute vorschreibe; den Fluch, wenn du nicht auf die Gebote HaSchems, deines G’ttes, hörst und von dem Weg abweichst, den ich dir heute vorschreibe, um anderen Göttern nachzujagen“ (Dewarim/Deut. 11:26-28).

 

Privatleben und Öffentlichkeit

Sind wir auch in unserem Privatleben für unsere Umgebung verantwortlich? Wie können wir lernen, unsere Nachbarn und Mitmenschen zu schätzen? Dies wird am Anfang der Parscha aufgezeigt.

 

Singular und Plural

Re’ee, siehe, steht im Singular. Aber der Pasuk, der Vers, fährt im Plural fort: lifneechem (für euch). Rabbi Efraim Luntschitz, der Autor des Kli Jakar, verknüpft diesen „Wechsel“ mit der berühmten Aussage unserer Weisen, dass „wir die Welt jederzeit mit unserem geistigen Auge betrachten sollten, als ob sie in exakter Balance ausgerichtet wäre, halb zechujot – Verdienste – und halb awonot (Sünden)“ (B.T. Kidduschin 40b).

In der Eröffnungspasuk wird der Einzelne auf seine Verantwortung für die Klal – die ganze Gemeinschaft – angesprochen. In der Tat betreffen unsere PrivatangelegenheitenAlle. Auf diesen Gedanken wird hier nachdrücklich Wert gelegt, weil wir gleich zur Mizwa von Har Gerizim und Har Eval übergehen werden, wo „ganz Israel für einander verantwortlich wurde“.

 

Widerspruch

Alles, für dass die Thora hier steht, befindet sich zu den Normen und Werten unserer Kultur im Widerspruch. Im Allgemeinen gilt, dass jeder Mensch selbst entscheiden muss, wie er privat handelt, und was er vor seinem Gewissen verantworten muss. Es geht sonst niemanden etwas an. Das wurde sogar gesetzlich geregelt. Das ist verständlich, müssen wir doch friedlich in einer multikulturellen Gesellschaft, in der Hunderte von sehr unterschiedlichen Lebensanschauungen auf ein paar tausend Quadratkilometern sind, zusammenleben. Das Jüdische Volk wird jedoch als eine viel größere Einheit betrachtet, weil es auch eine gemeinsame Lebensauffassung und ein gemeinsames Ziel hat.

 

Liebe zu den Mitmenschen

„Du sollst der Beracha (Segen) zuhören“: Der Fluch besagt, dass er gilt, wenn man nicht zuhört und vom Weg abweicht (d.h. auch falsch handelt). Aber die Beracha wird uns schon gegeben, wenn wir nur zuhören, denn auch mit nur einem „guten Gedanken und Willen wird es so betrachtet, als hätten wir die gute Tat vollbracht, die wir uns vorgenommen haben.“

Auf diese Weise lernen wir, unsere Mitmenschen viel mehr zu schätzen, auch wenn sie vielleicht momentan nicht viel Gutes tun, aber doch positive Absichten haben.

 

Author: © Oberrabbiner Raphael Evers | Raawi Jüdisches Magazin