Bereschit – Genesis

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Versuchen Sie, sich mit Ihren Feinden auf jede erdenkliche Weise zu versöhnen.

Ein guter Freund schrieb mir wegen einer interessanten rabbinische Gewohnheit: „Rabbi Sero versuchte immer, sich mit Menschen zu versöhnen, die ihn beleidigt hatten, indem er ihnen einen sehr subtilen Hinweis gab, sich bei ihm zu entschuldigen.

Wenn die Leute ihm eine Entschuldigung schuldeten, ging er zu ihrem Haus, ging an ihnen vorbei und kehrte dann zurück. Indem er an ihnen vorbeiging und hin und her ging, hoffte er, ihre Erinnerung an den Vorfall aufzufrischen und sie so daran zu erinnern, die Gelegenheit zu nutzen, sich zu entschuldigen. Er tat dies natürlich nicht nur, um sich selbst gut zu fühlen, sondern auch, um seinem Gegner zu helfen, sein Fehlverhalten zu bereuen und den Streit aus dem Weg zu räumen.

 

Wie ist Rabbi Sero auf diese geniale Idee gekommen?

Als Adam und Eva von dem Baum der Erkenntnis aßen, war das eine schwere Sünde gegen G-tt. Das einzige Verbot, das HaSchem (G‘tt) im Garten Eden gegeben hatte, war, nicht von dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, und sie taten es trotzdem

Was war die erste Reaktion G-ttes? Er hat sie nicht sofort aus dem Garten Eden vertrieben. Seine erste Reaktion war die Frage: „Wo bist du?“ Natürlich wusste G-tt, wo sie waren, aber er wollte, dass sie wissen, dass er nach ihnen suchte.

Leider zogen sie es vor, sich vor G-tt zu verstecken. Sie haben ihre Chance verpasst, sich zu entschuldigen. Hätten sie sofort geantwortet: „Wir sind hier, und wir wollen uns entschuldigen“, dann hätte ihr Schicksal viel besser sein können, wenn G-tt ihre Reue und Entschuldigung akzeptiert hätte, und ihre Beziehung zu G-tt wäre geheilt worden.

Wenn sich jemand nicht entschuldigt, ist das schmerzhaft. Aber wenn uns Unrecht widerfährt, lehrt uns die Tora, über den zugefügten Schmerz hinauszuschauen und darüber nachzudenken, wie die andere Person Wiedergutmachung leisten kann – nicht zu unserem Vorteil, sondern zu ihrem. Helfen Sie ihnen, die Beziehung zu reparieren, indem Sie ihnen zeigen, dass Sie ihre Freundschaft wollen, und geben Sie ihnen die Gelegenheit zu zeigen, dass sie auch Ihre Freundschaft wollen“.

 

Es war auf jeden Fall kein Apfelbaum

“Und G’tt gebotet dem Menschen wie folgt: Von allen Bäumen in diesem Garten können Sie essen; vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen werden sie jedoch nicht essen. Denn in dem Moment, in dem Sie davon essen, werden sie sterben”. (Bereschit 2:15)

 

Vier Meinungen

Die Identität der Baum der Erkenntnis bleibt unklar. Es war auf jeden Fall kein Apfelbaum. Wir finden vier Stellungnahmen im Talmud.

Nach der ersten Stellungnahme war es ein Feigenbaum, weil nach dem Sündenfall der Mann bedeckt war mit einem Feigenblatt. Mit der Frucht, mit der er gesündigt hatte, musste er sich anziehen.

Eine zweite Version behauptet, dass der Baum ein Etrog war, wo Zitrusfrüchte wuchsen.

Eine dritte Meinung geht davon aus, dass es die Rebe war, da Wein zum sündigen führt.

 

Nach einer vierten Auffassung war der Baum nur Getreide, weil der Mensch erst dann Ansicht erwirbt von der Zeit, dass er anfängt Getreide-erzeugnisse zu essen.

Bevor er gegessen hat von dem Baum, war Adams Geist frei und er konnte sich selbst seinem Verhältnis mit G’tt widmen. Wohnung, Nahrung und Kleidung waren kein Thema. Das Böse im Garten von Eden war symbolisiert durch die Schlange und war kein Teil der menschlichen Natur. Er war eine äußerliche Kraft, die er ignorieren, vermeiden oder sich erkundigen konnte. Der Mann hatte nur einen Auftrag, der nur von Freitag um drei Uhr nachmittags bis zum Anfang des Schabbat – dem Schöpfungsaugenblick – dauerte, am Freitagabend rund um sechs Uhr.

Doch konnte er sich nicht beherrschen. Er durfte nicht essen, aber er tat es trotzdem. Wiebald in dem Baum das Gute und das Böse untrennbar verbunden waren, wurde die schlechte Neigung ein Teil der menschlichen Seele, die er niemals meiden könnte. Überall wohin er geht, schleppt er ab jetzt die schlechte Neigung mit sich rum.

Der Mensch wurde zu einem Fass voller Wiederspruch, ein großer frustrierender Konflikt. Seine spirituelle Berufung und sein
animalische Driften zerrissen ihn. Der Mensch verlor seine Unsterblichkeit gleichzeitig mit seiner Unschuld. Gleichzeitig mit dem Sündenfall des Menschen ist auch die Schöpfung auf ein tieferes Niveau gefallen. Die ganze Schöpfung wurde geprägt durch eine Mischung von Gut und Böse.

Der Baum des Lebens, der Tora, könnte die Menschheit wieder aus seinem sündigen Zustand hochheben. Mit der Tora entsteht die Möglichkeit, um das Böse zu überwinden, sie sogar in Gutes zu verwandeln. Die Tora ist das Heilmittel gegen schlechte Neigungen.

 

GUT UND BÖSE, FREIE WAHL

Jeder Mensch hat einen freien Willen. Maimonides (hilchot teschuva, 5) bringt unseren freien Willen zwischen Gut und Böse wie einen unverletzlichen Grundsatz vor.

Wir können selbst entscheiden, ob wir dem Positiven im Leben folgen oder dem Negativen (Bereschit 3:22): “Der Mann ist gleich einer von uns geworden, im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Gut und Böse”.

Maimonides (1140-1205) erwähnt der Mensch sei einzigartig in seinem Bewusstsein und seinem Gefühl von Gut und Böse. Niemand hält uns. Deshalb steht weiter in der Tora (ibid.): “Lass er seine Hand nicht ausstrecken.”

Viele Menschen, auch die Wissenschaftler, glauben dass der G’tt den Mensch im Voraus programmierte. Maimonides findet dieses dumm und töricht: “Glaube nicht, dass G’tt schon bei der Geburt für den Menschen bestimmt, ob der Mensch verantwortlich sein wird oder nicht. So ist es nicht.”

Jeder kann ebenso verantwortlich wie Mosche Rabbenu sein. Jeder hat die Wahl, liebevoll oder grausam zu sein, gierig oder großzügig, extrem oder mäßig. Dies gilt auch für viele andere Merkmale.

Wenn wir sündigen, fügen wir uns selbst Schaden zu. Doch wir können Reue tragen. Wir können zurückkehren und unser falsches Verhalten hinter uns lassen: “Lassen wir unser Verhalten tiefgründig untersuchen und kehren wir zurück zu Hasjeem, der immer Treu  ist.”

Das gesamte Judentum ist hiermit durchtränkt, durchzogen. Sonst wären wir Roboter und es war nicht die Frage ob es eine Strafe oder eine Belohnung gibt. Die freie Wahl steht explizit in Devarim/Deut. 11:29: “Sehen Sie, ich halte sie vor Segen und Fluch. Segen beim Hören aber Fluch wenn sie anderen Göttern folgen.”

G’tt wurde von den Menschen nichts erzwingen.

Wenn alles von Anfang an festgelegt ist, kann der Tora nicht vor unerwünschtem Verhalten warnen. Wenn wir von Geburt an vorprogrammiert sind, kann G’tt uns niemals für gute Taten belohnen: “Würde der Richter der ganzen Erde nicht Recht tun?” (Bereschit/Gen. 18:25).

So wie G’tt will, dass das Feuer aufsteigt, das Wasser auf den Boden fällt und jeder Planet einen bestimmten Kreislauf durchläuft – so folgen wir in unserem aller Verhalten was G’tt von uns will. G’tt will, dass wir einen freien Willen haben.

Wir sind so programmiert, dass wir uns mit unserem Wissen, das wir von Oben empfangen haben, tun was wir zu tun haben wie freie Menschen.

Deshalb kann G’tt uns beurteilen, belohnen und bestrafen. Es ist genauso, wie der Prophet Jeschaja sagte: “Sie haben Ihren eigenen Weg.” (66:3). Daher warnt der König Salomo alle, einschließlich der Jugend, um zu erkennen was Sie tun: “Freuen sie sich auf ihre Jugend, aber realisieren sie, dass G’tt dem Konto und Verantwortung ziehen soll” (Prediger 11:9).

Aber hier ist ein (robuste) Paradoxon. Wenn G’tt alles im Voraus weiß, was ist noch unsere freie Wahl? Wenn der Mensch seine freie Wahl nutzt, entstehen große theologische Probleme. G‘tt weiß alles im Voraus. Wenn G‘tt weiß, dass ich morgen mit dem Fahrrad nach Paris fahre und ich mich aus freiem Willen dagegen entscheide, entsteht ein Paradoxon, das wir mit dem menschlichen Verstand nicht lösen können.

Maimonides sagt dass die Antwort auf diese Frage mehr Papier braucht als die Erde lange ist und mehr als das Meer weit ist. Viele andere wichtige Ideen stehen hiermit im Zusammenhang. Aber eine Sache möchte Maimonides uns gerne mitteilen: G’tt bekommt keine Kenntnis von etwas, außerhalb von Ihm. Er und seine Kenntnisse sind eins.

Im Falle der Menschen ist es anders. Wenn wir Kenntnisse erwerben, nehmen wir etwas auf der Welt um uns herum wahr. Wir und unser Wissen sind zwei getrennte Einheiten.

Wir können G’tt nicht verstehen: “Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und euren Wegen sind nicht Meine Wege”, sagte G’tt zu Jeschaja (56:8). (Nach unserem großen Philosophen Maimonides).

 

ANREGUNG ZUM NACHDENKEN: Zwei Kinder, Kain und Hewel

Bereschit ist der Anfang aller Dinge. G-tt erschuf die Welt. Am sechsten Tag kamen die Tiere dazu und die Menschen, welche G-tt in seinem Ebenbild erschuf.

Adam und Chava (Eva) haben zwei Kinder: Kain und Hewel. Kain ist ein Ackerbauer und Hewel ist ein Hirte.

Beide bringen G-tt ein Opfer dar, doch G-tt nimmt nur Hewels Opfer an. Darauf wird Kain wütend und ein Streit entbrennt, in dem Kain Hewel erschlägt.

 Bereschit 4,8-12 8 Und Kain sprach mit seinem Bruder Hewel; und als sie auf dem Felde waren,

überfiel Kain seinen Bruder Hewel und erschlug ihn.

9 Da sprach der E-wige zu Kain: Wo ist Hewel, dein Bruder? Und er antwortete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?

10 Da sprach er: Was hast du getan? Horch! Das Blut deines Bruders schreit zu mir auf vom Erdboden.

 

 

  1. MIDRASCH: BERESCHIT RABBA 22.8

Dass Kain Hewel umbrachte, kam nicht ganz überraschend. Die beiden Brüder stritten sich schon als kleine Kinder. Ihr Vater brachte ihnen verschiedene Berufe bei, um sie voneinander zu trennen. Dem Kain zeigte er den Ackerbau und dem Hewel die Schafzucht.

Als sie die Opfer darbrachten, brachte Hewel ein Opfer von den Erstlingen seines Kleinviehs – nur die besten Stücke.

Kain hingegen brachte, was nach seinem Nachtessen übrig blieb. Deswegen nahm G-tt sein Opfer nicht an.

Nun hatte Kain genug von seinem Bruder. Er sagte zu ihm: «Komm, wir teilen unseren Besitz auf und trennen uns.» Er schlug Hevel vor: «Nimm du die Schafe und das Vieh und ich nehme das Land.»

Hevel war einverstanden. Am nächsten Tag sagte Kain zu Hevel: «Verschwinde von meinem Land – es gehört mir allein.»

Hevel antwortete:

«Und du, gib mir die Kleider, welche du auf dem Leib trägst. Die Wolle, aus der sie gefertigt sind, gehört mir.»

Aber Rabbi Jehoschua sagte: beide nahmen Land und beide nahmen Vieh.

Worum stritten sie also? Einer sagte: «Auf meinem Grundstück soll der Tempel erbaut werden». Der andere sagte: «Nein auf meinem Grundstück soll der Tempel erbaut werden.»

 

Aus welchem Grund hat G-tt Kains Opfer nicht angenommen?

Was will der Midrasch sonst noch mit der Uneinigkeit über den Standort des Tempels erklären?

 

  1. MIDRASCH: BERESCHIT RABBA 22.9

Kain meint, dass G-tt sich in dieser Geschichte wie ein König benimmt, welcher einem Gladiatorenkampf zusieht. Wenn einer der Gladiatoren stirbt, ist doch der König schuld, denn er hätte die Gladiatoren ja aufhalten können. Kain fragte G-tt: «Ist es nicht Deine Schuld, denn Du hast es mir nicht verboten? Ist es nicht Deine Aufgabe, alle Menschen zu beschützen? Und ausserdem, hast Du mich nicht so erschaffen, wie ich nun eben bin? Also ist doch alles Deine Schuld.

G-tt antwortete: «Ich habe dich in Meinem Ebenbild erschaffen, mit einem

Verstand und einer Seele. Wenn ich alle deine Taten steuern würde, wärst du nur eine Marionette.»

Warum hat G-tt Kain nicht aufgehalten?

Author: © Oberrabbiner Raphael Evers

Foto: © 1640 Gioacchino Assereto: Kain und Abel