EIN ÖFFENTLICHER AUFTRAG: SEI KEIN VERBRECHER INNERHALB DER GESETZESREGELUNG

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„Sprechet zur gesamten Gemeinde von Israel und erzählet ihnen: „Ihr sollt heilig sein, denn ICH, Euer G“tt, bin heilig“ (Lev. 19:1-2). Laut Nachmanides kann man ein „nawal birschut haTora – ein Verbrecher innerhalb der Gesetzesgebung“- bleiben, auch wenn man alle Mitzwot erfüllt. Wir können unsittlich sein, ohne direkt ein erkennbares Ge- oder Verbot zu übertreten. Wir können uns völlig ungesund vollstopfen und doch glatt koscher essen. Das war nicht die Absicht der Tora. Die Tora möchte, dass wir heilig sind, auch in den meist irdischen Dingen, auch dort, wo es keine eindeutigen Vorschriften gibt.

 

Weshalb wurde dieser Auftrag öffentlich erteilt? Da dieser Auftrag die Grundlage eines Jüdischen Lebens bildet. Wir können „technisch jüdisch“ sein und alle Mitzwot (Gebote) erfüllen, aber weiter wenig von der Botschaft der Tora verstanden haben. Wir können auch inhaltlich jüdisch leben. Dann entsprechen wir der Absicht des Gesetzes. Es ist nicht nur der Buchstabe des Gesetzes, den die Uhr schlägt. Auf uns allein gestellt, wird das nicht gelingen. Wir benötigen immer die Hilfe der Gemeinschaft. Ein Einzelner kann den Karren nicht selbst ziehen. Wie benötigen unsere Bekannten und Freunde. Deshalb wird zur gesamten Gemeinde gesprochen.

ein gutes jüdisches Lebensumfeld aufsuchen

Heutzutage leben wir in einer ungezähmten, auf Genuss ausgerichteten Gesellschaft, wo alles zu gehen hat und möglich sein sollte. Kedduscha ist in unserem Umfeld ein unbekanntes Gebiet. Deshalb ist es so wichtig, dass wir ein gutes jüdisches Lebensumfeld aufsuchen. Rebbe Binem, ein chassidischer Rebbe, glaubte in seiner Jugend, er könnte die gesamte Welt ändern. Als er älter wurde, sah er ein, dass das nicht gelingen würde. Er hoffte jedenfalls jedoch, seine Stadt ändern zu können. Nach einiger Zeit verstand er, dass auch das nicht machbar sei. „Ich sollte jedenfalls meine Gegend spirituell aufmuntern“. Aber dann verstand er, dass auch das nicht ging.

Wir benötigen einander

„Ich werde jedenfalls versuchen, meine Familie zu verändern“. Als er sah, dass das nicht gelang, verstand er, dass er es bei sich selbst versuchen sollte. Aber wenn wir uns selbst ändern können, sehen wir dann auch, dass auch der Rest unseres Umfeldes sich mit ändert. Und das ist der Inhalt von Kedoschim Tihju – Ihr sollt heilig sein – in der Mehrzahl. Wir können es nicht allein klären. Wir benötigen einander.

 

Sich mit voller Hingabe widmen

Die Tora beauftragt uns, heilig zu sein, aber Heiligkeit kann auf sehr viele unterschiedliche Weisen umgesetzt und ausgeführt werden. Zurzeit werden die Medien durch eine Art von „Heiligkeit“ beherrscht, die das Leben anderer kostet. Die angeblichen „Heiligen Kriege“ verursachen viel Kummer und haben viel Elend verursacht und sind nicht beendet.  Wie definieren wir Heiligkeit? Bedeutet das: „sich nicht an unheiligen Angelegenheiten beteiligen“? Ist es Abstinenz? Oder kommt das Wort Heiligkeit vom Stamm „Ganzheit“, ein Auftrag zum Aufbau einer integrierten Persönlichkeit? Das Konzept Heiligkeit lässt sich nicht leicht in eine Definition packen. Vielleicht ist eine bessere Übersetzung: „Commitment“. G“tt bittet, uns unserer Jüdischen Aufgabe mit voller Hingabe zu widmen.

 

Commitment äußert sich in kleinen Einzelheiten. Wir können die Hand G“ttes selbst in den meisten irdischen Erscheinungen wahrnehmen. Der Unterscheid zwischen einem religiösen und einem nicht-religiösen Menschen ist zweierlei. An erster Stelle gibt es die praktische Umsetzung der Ge- und Verbote. Aber daneben gibt es auch eine Haltung. Die Religiosität ist eine Haltung, bei der bei jedem Ereignis die Hand G“ttes zu sehen ist.

G“tt auch in den meist irdischen Angelegenheiten suchen

Sind wir dem Ziel G“ttes mit der Menschheit und mit der Welt zugeneigt, dann sehen wir überall Gelegenheiten, um die Nähe G“ttes zu suchen. Wenn wir tatsächlich zugeneigt sind, dann werden wir versuchen, G“tt auch in den meist irdischen Angelegenheiten zu suchen. Es ist immerhin nicht immer möglich, eine konkrete Mitzwa zu tätigen. Aber die Suche überall nach G“tt ist die größte Mitzwa an für sich. Es handelt sich um die kleinen Dinge. Wir suchen hohe spirituelle Ekstase. Aber erwarte hier nicht allzu viel davon. Geistige Höhenflüge kommen in unserem Leben nur selten vor. Wenn wir jedoch konsequent, sei es vielleicht auf Sparflamme, unsere Religion fortsetzen, werden wir die enorme Höhe von Selbsterfüllung doch erreichen können.

Das ist aller Wahrscheinlichkeit nach dem Auftrag, um „kedoschim“ zu sein. Laut dem Sefat Emmet möchte unser irdisches Streben in der Welt um uns herum nur die Natur sehen. Aber auch die Natur ist im Grunde genommen EIN großes Wunder. Eigentlich sollten wir jede Sekunde stillstehen und wegen der G“ttliche Größe, die uns umgibt, jauchzen müssen. Wenn wir zugeneigt sind, können wir selbst gegen diese Jejtzer Hara angehen.

Das Judentum vermutet, dass es einen Schöpfungsplan und eine klare G“ttliche Leitung gibt, die sich bis zu jedem individuellem Leben ausstrecken. Ohne klare G“ttliche Leitung ist unser Leben ziemlich ziellos. Dieser Lebensauftrag gilt überall und immer, während unseren jungen Jahren oder nach unserem Ruhestand. Auch in allen denkbaren Umständen gilt der Auftrag, “heilig“ zu sein.

Heiligkeit ist nicht nur G“ttzugewandheit, sondern steht gleichzeitig für das höchst zu erreichende Ideal in der menschlichen Sphäre. Es gab im Holocaust viele Menschen, die sich weigerten, sich entmenschlichen zu lassen. Sie blieben „Mensch“, in allen erdenklichen Umständen. Dieses ist ein großer Auftrag: immer kaddosch bleiben, trotz allem.

 

Author:  © Oberrabbiner Raphael Evers | Raawi Jüdisches Magazin