DIE GESCHICHTE VON JOSSEF
VERTIEFUNG I: „Verschütte kein Blut, wirf ihn in diesen Schacht, strecke nicht Deine Hände nach ihm aus, denn er hatte die Absicht, ihn aus deren Hand zu retten und ihn deren Vater zurück zu geben“ (37:22).
Die Brüder waren sehr eifersüchtig, da deren Vater Jossejf bevorzugte. Außerdem hatte Jossejf zur Kenntnis gegeben, dass er über sie herrschen würde. Daraufhin entschieden sie, ihn zu töten. Re’uwen versucht(e), seine Brüder davon ab zu bringen.
Der Midrasch (Wajikra Rabba 34:8) kommentiert hierzu: „Hätte Re’uwen gewusst, dass G“tt über ihn in der Thora schreiben würde, dass er ernsthaft die Absicht hätte, Jossejf zu retten, dann hätte er Jossejf auf seinen Schultern zu seinem Vater zurückgetragen haben – anstatt an zu raten, dass sie ihn in den Schacht werfen sollten“. Erstaunlich! Dieser Midrasch impliziert, dass Re’uwen nicht sehr seriös gewesen sei. Aber so einfach war es nicht.
von seinem Gewissen geplagt
Re’uwen, der als der Erstgeborene die größte Verantwortung trug, wird von seinem Gewissen geplagt: „Waren meine Brüder mit ihrem Todesurteil für Jossejf gerecht?“. Diese Frage muss andauernd durch seinen Kopf gegangen sein. Der Rokeach (13. Jahrhundert, Deutschland) lässt vermuten, dass Re’uwen sich selber mit einem Argument geantwortet hat, das später zum Gesetz aufgewertet wurde: „Wenn ein Verbrecher einstimmig zum Tode verurteilt wird, ohne dass es auch nur EINE abweichende Meinung gibt, wird der Verdächtige frei gelassen. Die Tatsache, dass nichts zu seinem Vorteil gesagt werden konnte, deutet darauf, dass alle Richter mit negativen Vorurteilen behaftet seien.“
Wir wissen nie, ob wir korrekt gehandelt haben
Der Gaon von Wilna erklärt, dass wir oft gute Dinge machen möchten, aber nie wissen, ob wir korrekt gehandelt haben oder nicht. Dieses war Re’uwens Dilemma. Die Brüder hatten entschieden, dass Jossejf, als einen „Rodejf“ – Belagerer – die Todesstrafe verdiente. Sie meinten, dass Jossejf sie lebensgefährlich bedrohte.
Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert
Obwohl er damit nicht einverstanden war, war Re’uwen nicht vollständig davon überzeugt, dass er Recht hatte. Deshalb ließ er ihn lediglich in den Schacht (Hohlraum) werfen. Hätte er verstanden, dass seine Entscheidung tatsächlich der Wille G“ttes sei, dann hätte er mit viel mehr Überzeugung gehandelt und Jossejf auf seinen Schultern zu seinem Vater zurückgebracht haben. Re’uwens Problem ist ein allgemeines menschliches Dilemma: wir kennen den Effekt unserer Handlungen nicht: der „Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“. Erst viele Jahre später kann man anlässlich eines Rückblickes beurteilen, ob eine bestimmte Wahl in unserem Leben die Richtige gewesen war. Dieses ist jedoch ein tragischer Bestandteil des menschlichen Dramas…
Jossejf der herausragende Tzaddik
VERTIEFUNG II: „Jossejf war nun eine hübsche Gestalt und hatte ein nettes Äußerliches“ (39:6) Im Talmud wird Jossejf als der herausragende Tzaddik genannt. Der Tzaddik ist der jüdische Held. Wie definieren wir einen Held? In den Sprüchen der Väter (Pirkej Awot) steht: „Ben Soma sagt: Wer ist weise? Der, der von Anderen lernt. Wer ist ein Held? Der, der im Stande ist, sich zu bezwingen und zu beherrschen. Wer ist reich? Der, der über das, was er hat, froh ist. Wer erhält Ehre und Bewunderung? Der, der anderen Menschen ehrt und bewundert“.
Das Judentum kennt keine Heldenverehrung
Wir sehen hier, dass das Judentum keine Heldenverehrung kennt, so wie das in manchen Kulturen üblich war und ist. Über Kraft, Reichtum oder Intelligenz zu prahlen, ist nicht angebracht. Die Definition eines Helden ist jemand, der im Stande ist, sich selbst zu beherrschen, seine Gelüste und Leidenschaften zu bezwingen und seine Sehnsüchte zu zügeln. Das Judentum kennt also keine Heldenverehrung, wie in den Ritterromanen des Mittelalters oder wie in den Griechischen Mythen und Sagen. Unsere Helden sind Helden des Geistes. Menschen, die oberhalb ihrer irdischen Beschränkungen, kleinen Nöten, schwierigen Umständen, Eigenwahn oder Selbsteinbildung gelangen konnten.
mit „äußerlichen“ Lockmitteln ins Judentum hereinziehen
VERTIEFUNG III: „Aber er ließ sein Kleid in ihrer Hand zurück, flüchtete und lief hinaus“ (39:12) Als die Frau von Potifar – Sulaika – Jossejf ergreifen konnte, flüchtete er nach draußen. Sulaika behielt nur seinen Mantel in ihrer Hand zurück. Die Symbolik dieser Geschichte möge verdeutlichen: wenn wir versuchen, unsere Jugend mit allerhand „äußerlichen“ Lockmitteln ins Judentum herein zu ziehen, bleibt uns lediglich eine leere Hülse mit Bezug zum Judentum übrig. Wenn der Inhalt uns entgleitet, sind wir weit vom Zuhause entfernt. Es war die Mesirut Nefesch (die Aufopferungsbereitschaft) von Jossejf, die ihm half, dass er sein Judentum beibehalten konnte. Ein Beispiel für uns: Judentum ist mehr als nur „Hühnersuppe an Freitagabend“.
* Parscha Wajeschew (Bereschit/Genesis 37:1 – 40:23)
© Oberrabbiner Raphael Evers | Raawi Jüdisches Magazin