Paraschat Wajigasch: Alter Wein oder halbe Bohnen?

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Alter Wein oder halbe Bohnen

Jossejf ließ seine Brüder sich schnell auf den Weg heimwärts machen, um Vater Ja’akov zu entspannen. Er sandte auch viel Nahrung mit: „und für seinen Vater sandte er zehn Esel, vollgepackt mit den herrlichsten Leckerbissen aus Ägypten und zehn Eselinnen, voll beladen mit Weizen und Brot und anderer Nahrung, mit“ (Gen. 45:23). Mit den zehn Eseln berichtete er seinem Vater symbolisch: „Verzeihe meinen zehn Brüdern jenen schändlichen Verkauf. Sie handelten wie Esel!“. Eine Botschaft in Geheimschrift!

alten Wein

Was meint die Thora mit „den herrlichsten Leckerbissen“? Laut Raschi (1040-1105) bedeutet dieses, dass Jossejf seinem Vater alten Wein sandte, den Betagte gerne mögen und laut einer zweiten Erklärung sandte er fein gemahlene Bohnen (B.T. Megilla 16b).

Weshalb schickte Jossejf gerade diese Delikatessen? Jossejf wusste, dass wenn seine Brüder Ja’akov erzählen würden, dass „Jossejf noch lebt“, dieses große Freude bedeuten würde. Aber Jossejf sah auch große Probleme voraus, da Ja’akov zu entdecken hätte, dass Jossejf durch seine Brüder als Sklave verkauft worden sei.

 

Den Verdruss besänftigen

Jossejf versuchte, diesen Verdruss etwas zu besänftigen, indem er ihm fein gemahlene Bohnen sandte. Damit deutete er an, dass es im Leben einige Dinge geben würde, die nur mit viel Mühe, Einsatz, Schweiß und Tränen erreicht werden könnten. Jossejf gab hiermit seinem Vater einen Hinweis, dass er nur durch die Absonderung aus der Familie, durch seine Sklaverei und durch seinen Aufenthalt im Gefängnis zu dieser politischen Größe hatte gelangen können, wodurch er jetzt im Stande sei, seine gesamte Familie vor der Hungersnot zu retten.

 

den Wein so lange zur Seite gestellt, dass er zu altem Wein wurde

Jossejf sandte auch alten Wein nach Hause. Kurz, bevor er sich seinen Brüdern offenbarte, hatte er sie zu einem Bankett in seinem Palast eingeladen. Die Thora erzählt uns, dass die Brüder dort zusammen mit Jossejf Wein tranken. Raschi erklärt, dass sie ab dem Verkauf von Jossejf, nie mehr Wein getrunken hätten. Auch Jossejf hatte keinen Wein mehr getrunken, aber an dem Tag tranken sie zusammen Wein. Jossejf wurde sich bewusst, dass auch sein Vater Ja’akov 22 Jahre lang keinen Wein angerührt hatte. Wir können uns die Simche (Freude) vorstellen, die Ja’akov empfunden haben müsste, als er von Jossejf selber Wein angeboten bekam.

Jossejf sandte alten Wein, um damit Ja’akov subtil einen Hinweis zu geben, dass er während all den Jahren, in denen er in Ägypten sei, er nie seine Hoffnung verloren hatte, irgendwann mit seinem Vater wieder vereinigt zu werden. Obwohl er nie Wein getrunken hatte, hatte er den Wein so zur Seite gestellt, SO lange, dass er zu altem Wein wurde, so dass dieser bei der letztendlichen Wiedervereinigung verwendet werden könnte.

 

Die Wagen

Jossejf sandte Wagen mit Nahrung, um seinen Vater davon zu überzeugen, dass er tatsächlich der verlorene Sohn sei. Dieses war ein Hinweis auf einen Umstand, von dem nur Vater und Sohn wussten: der Inhalt des letzten „Unterrichtes“, den sie miteinander hielten, war die Frage, was zu tun sei, wenn man irgendwo auf einem Feld ein Opfer eines anonymen Mordes gefunden hätte (das Hebräische Wort „Wagen“ (agala) und der Versöhnungsvorgang anlässlich eines ungelösten Mordgeschehens (egla arufa) ähneln einander sehr).

 

Versöhnungsvorgang anlässlich eines ungelösten Mordgeschehens

Die Älteren aus dem sich am nächsten befindlichen Ort hätten dann ein Opfer zu erbringen und klar zu stellen, dass sie alles getan hätten, um die Sicherheit in ihrem Umfeld zu optimieren. Grundsätzlich gilt hierbei die Annahme, dass alle Menschen füreinander verantwortlich sind. Die höchste Stufe meiner Spiritualität ist, dass ich mich um die gewöhnlichen, alltäglichen irdischen Bedürfnisse Anderer kümmere. Als Jossejf seinem Vater mitteilen ließ, dass er „von G“tt zum Erhalt der gesamten Familie nach Ägypten geleitet wurde“, fing Ja’akov tatsächlich daran zu glauben an, dass sein Sohn immer noch lebte, UND dass er in seinem Geist weiterlebte oder besser gesagt, im Geiste Ja’akovs wirkte.

 

WIE BERICHTETE JOSSEJF SEINEM VATER JA’AKOV, OHNE IHN IN EINEN SCHOCKZUSTAND ZU VERSETZEN?

 

Wie sollte Jossejf seinem Vater Ja’akov die gute Nachricht zukommen lassen, der glaubte, er sei durch ein wildes Tier zerrissen worden, ohne seine Brüder in eine peinliche Situation zu bringen? Würde Ja’akov ihnen glauben?

Ja’akov hatte vom Verkauf nie gewusst

Nachmanides (1194-1270) glaubt, dass Ja’akov vom Verkauf nie gewusst hatte. Die Brüder hätten erklärt, dass Jossejf sich unterwegs verirrt hätte und dass diejenigen, die ihn gefunden hatten, ihn als Sklave verkauft hätten. Aber jetzt scheint er also doch noch zu leben, und das auch noch als Vize-König!

sie erzählten, dass Jossejf brüderlich mit ihnen um ging

Rabbi Schmuel ben Meir (Raschbam, 1085-1174) sieht die Lösung in der Tatsache angedeutet, dass die Brüder „alle Wörter von Jossejf“ Ja’akov überbrachten. Mit „alle Wörter von Jossejf“ wird gemeint, dass sie Ja’akov erzählten, dass Jossejf ihnen um den Hals fiel und brüderlich mit ihnen um ging. Die Wagen, die Jossejf schickte, wurden durch Ochsen gezogen, die das Land nicht ohne Genehmigung des Königs oder des Vize-Königs verlassen durften. Dadurch wusste Ja’akov, dass tatsächlich etwas ganz besonderes vor sich ging.

die Freude einigermaßen dämpfen

Ja’akov fiel wegen des plötzlichen Berichtes in Ohnmacht. Rabbi Owadja di Seforno (1475-1550) besagt, dass die Brüder deshalb die gute Nachricht über Jossejf mit einer schlechten Nachricht ergänzten, dass „es noch eine Hungersnot während fünf Jahre“ geben würde. Hierdurch wurde die Simcha (die Freude) einigermaßen gedämpft, damit Ja’akov sich nicht vollständig verlieren sollte.

 

wo waren die Wagen, die Pharao geschickt hatte

Ja’akov sah die Wagen, die Jossejf geschickt hatte. Aber wo waren die Wagen, die Pharao geschickt hatte? Die Wagen, die der Pharao geschickt hatte, wiesen Abbildungen von Awoda Sara – Götzendienst- auf. Jehuda verbrannte diese aus Eifersucht. Aber weshalb steht dann etwas weiter, dass „die Bnej Jisraejl, deren Vater Ja’akov, deren Kinder und deren Frauen in den Wagen reisten, die der Pharao geschickt hatte, um sie mit zu nehmen“?

eine subtile Art von Götzendienst

Rabbi Wolf Strikov (20. Jahrhundert) erläutert, das die Wagen, die Ja’akov und seine Familie nach Chuts la’Aretz – außerhalb von Israel – bringen sollten, im Grunde genommen eine subtile Art von Götzendienst bildeten, da „jeder, der außerhalb von Israel lebt oder wohnt, betrachtet würde, als ob er keinen G“tt hätte“. Ja’akov wollte nicht in den Wagen reisen, die der Pharao geschickt hatte. Die Tatsache, dass er Israel verlassen sollte oder würde, war an für sich schon eine verkappte Art von Götzendienst.

Anfang des Exils

Aber da G“tt dem Ja’akov erschienen war und zu ihm gesagt hatte: „Ich werde mit Dir nach Ägypten hinuntersteigen und ICH werde Dich auch wieder herausholen“, verstand Ja’akov, dass er sich nicht davor drücken konnte. Diese Wagen, die im Auftrage des Pharaos gesandt wurden, bildeten im Grunde genommen den Anfang des Exil

 

Ja’akovs Geist lebte auf

Laut dem Midrasch werden mit den Wagen (Agala im Hebräischen), die Jossejf schickte, die Vorschriften für die Tötung des diesbezüglichen Kalbes (egla) angedeutet. Dieses war die letzte Abhandlung, die Ja’akov und Jossejf thematisiert hatten, bevor er nach Schechem gesandt wurde, um zu sehen, wie es seinen Brüdern erging, wonach er nach Ägypten verfrachtet wurde. Als Ja’akov diesen Hinweis verstand, lebte sein Geist auf.

Egla Arufa – das zu tötende Kalb – als Passwort

Was hat das zu tötende Kalb (ein Vorgang, bei dem dem Kalb der Nacken gebrochen wird und hierdurch der Tod eintritt) – ein Thora-Vorgang, der von den Ältesten der sich an der nächsten befindlichen Stadt ausgeübt werden soll, nachdem auf dem Feld eine Leiche gefunden wurde – inhaltlich mit der Begegnung zwischen Jossejf und Ja’akov zu tun?

Thoratreuer Jude

Aus der Tatsache heraus, dass Jossejf sich noch an die Abhandlung der Egla Arufa erinnerte, verstand Ja’akov, dass Jossejf noch immer ein Thoratreuer Jude sei. Das war das Einzige, was für Ja’akov wirklich zählte. Jossejf verwendete den Inhalt seiner Thora-Unterrichtsstunden bei Ja’akov hier selbst als Passwort! Unsere Weisen sagen in den Pirké Awot, dass jemand, der die G“ttesachtung seiner Weisheit bevorzugt, dieser seine Weisheit behalten würde. Jossejf war noch im Besitz von allem, was er gelernt hatte. Ja’akov nahm das als ein Zeichen wahr, dass er noch immer eine G“ttesfürchtige Person sei.

Wer sollte jetzt wem aufsuchen

Jedoch verbirgt sich in der Prozedur des zum Nackenbrechen genannten Kalbes noch ein tiefer gehender Sinn. Wer sollte jetzt wem aufsuchen oder besuchen kommen? Sollte Jossejf zu Ja’akov gehen, da er seinem Vater Ehre zu erweisen hatte oder sollte Ja’akov nach Ägypten gehen, um Jossejf, als Vize-König, zu ehren? Diese Frage kommt innerhalb des Kaders des Vorganges der Egla Arufa zur Sprache.

Die Entscheidung lautet, dass man den Kopf dem Körper folgen lässt

In B.T. Sota 45 wird über die Frage diskutiert, was nun zu geschehen sei, wenn sich der Körper des Mordopfers näher zur Stadt A befindet, während der Kopf sich näher zur Stadt B befindet. Welche Stadt käme jetzt für den Vorgang in Frage? Die Entscheidung lautet, dass man den Kopf dem Körper folgen lässt und deshalb musste Ja’akov – der der Kopf der Familie war – hinter Jossejf in Richtung Ägypten.

 

© Oberrabbiner Raphael Evers | Raawi Jüdisches Magazin

Foto: The Recognition of Joseph by his Brothers | © 1816 Fresco / Wikipedia