Wer ist ein religiöser Mensch?
Das Jüdische Volk befand sich während der letzten drei Plagen immer noch in Ägypten und musste diese über sich ergehen lassen. Zum Ende starben alle Erstgeborenen von Ägypten, sowohl Mensch wie Tier. Nach diesem furchtbaren Geschehen drängt der Pharao bei Mosche und Aharon auf ein sofortiges Wegzug. Das Jüdische Volk bekommt als Auftrag mit, dass es alle Erstgeborenen bei Menschen und Tieren zu heiligen hat, da „sie von MIR sind“, spricht G“tt (13:2).
in allem die Hand G“tte sehen
Ich frage mich immer ab, was oder wer ein wirklich religiöser Mensch sei. Ist das jemand, der die gesamte Thora befolgt und entsprechend lebt, oder wird mehr von uns gefordert oder erwartet?
Natürlich wird mehr von uns erwartet, als nur eine uneingeschränkte Umsetzung von dem, was geschrieben steht. G“tt möchte das Herz. Im Judentum können wir G“tt auf drei Arten dienen: durch das Tun oder Handeln, indem wir „lernen“ und indem wir fühlen. Wir sollen G“tt auch emotional folgen. In der Wirklichkeit unseres Daseins bedeutet das, dass wir in allem die Hand G“tte sehen sollten. Dieses setzt einen wackeren Geist, Scharfsinn, Selbstkritik und das Empfinden für alles, was sich um uns herum ereignet, voraus.
unser Umfeld ist wie ein Spiegel für uns
In Ägypten ereignete sich, so kurz vor dem Auszug, eine Menge. Man kann sich nicht allem, was um einen herum geschieht, annehmen. Aber wenn etwas mit Menschen geschieht, die uns angehen oder mit Menschen, die in gewisser Hinsicht uns ähneln, da sollten wir, nicht nur gedanklich, uns in Bewegung setzen. Der Ba’al Schem Tow (1698-1760) sagte oft: unser Umfeld ist wie ein Spiegel für uns. Alles, was sich ringsherum um uns ereignet, ist wie eine Botschaft an und für uns.
beängstigend und traumatisch
Jeder schreckte vor der zehnten Plage zurück, dem Versterben der Erstgeborenen, die die Einleitung auf die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei bildete. Aber gerade für die Jüdischen Bechorim (Erstgeborenen) muss der Tod der ägyptischen Erstgeborenen außerordentlich beängstigend und traumatisch gewesen sein.
Die überlebenden Jüdischen Erstgeborenen konnten es sozusagen wie mit einem Krückstock anfühlen, dass sie diese Plage für einen höheren Zweck in G“ttes Plan mit dem Jüdischen Volk überlebt hatten. Ein Erstgeborener empfindet sowieso schon durchgehend eine größere Verantwortung wegen seiner Stelle gegenüber seinen jüngeren Brüdern und Schwestern.
Schuldgefühl eines Überlebenden
Aber nach der zehnten Plage mussten sie – aus einem Gefühl von Survivor’s guilt (dem Schuldgefühl eines Überlebenden) – noch besser verstanden haben, was ihre Aufgabe in dieser Welt sein würde. Sie wurden mittels eines G“ttlichen Dekretes geheiligt.
über das alltägliche Irdische stehen
Heilig kommt vom Wort Heil oder Ganz (Perfekt). Die Bechorim sollten „heil sein“, zu harmonischen, im Gleichgewicht befindlichen und integrierten religiösen Persönlichkeiten heranreifen, als Beispiel für Andere. Aber heilig bedeutet auch: über etwas stehen, erhaben sein über das alltägliche Irdische. Die Bechorim waren dazu vorgesehen oder es war beabsichtigt, dass sie die Kohanim (Priester) werden sollten. Aber beim Goldenen Kalb lief alles aus dem Ruder. Letztendlich wurden besondere Mitglieder aus dem Stamm Levi – Aharon und seine Söhne – die Kohanim. Eine verpasste Gelegenheit!
Parscha Bo (Schmot/Exodus 10:1 – 13:16)
Author: © Oberrabbiner Raphael Evers | Raawi Jüdisches Magazin