Beschalach: Wie überleben wir die Golah, das Exil?

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Schon sofort bei den ersten Unterredungen von G“tt mit Mosche beim brennenden Dornbusch am Fuße der Berges Sinai erzählte HaSchem Mosche über die künftigen Verbannungen oder Exile, denen wir künftig ausgesetzt sein würden. HaSchem sagte zu Mosche, dass ER auch in allen künftigen Exilen mit dem Jüdischen Volk sein würde. Mosche fragte HaSchem, ob es denn auch vernünftig sein würde, anlässlich dieser Erlösung aus der Ägyptischen Sklaverei auch künftige Erlösungen zu vermelden. Dieses würde nämlich implizieren, dass noch weitere Verbannungen oder Exile für die Bnej Jisra’ejl folgen würden, was nicht sehr ermutigend sei. HaSchem stimmte Mosche zu. HaSchem vermeldete die künftigen Exile nicht mehr, um die Bnej Jisra’ejl nicht zu demotivieren. In der Parascha Beschalach ziehen wir aus Ägypten aus, aber wir kommen wir durch alle künftigen Exile, ohne allzu viele geistige Beschädigungen?

 

Das Judentum auf Dauerhaftigkeit festigen

Wie können wir diese Golah, hier und jetzt im Jahr 2021, überleben und wie haben unsere Ahnen alles überlebt? Hierzu sind viele Faktoren auf zu zeigen. Ich konzentriere mich hier auf die Anstrengungen unserer Erzväter und ihrer Kinder, den Schewatim (die Stammesväter, ab Re’uwen bis Jossejf und Benjamin), um das Judentum zur Dauerhaftigkeit zu formen und es zu festigen.

Jossejf, der Vize-König von Ägypten, sah die erste Golah und die Unterdrückung in Ägypten voraus. Jossejf wollte, koste es was es wolle, vermeiden und dem zuvorkommen, dass die Bnej Jisrae’ejl sich assimilieren würden. Jossejf hat seinen Anteil zu diesem Gegensteuern beigetragen, indem er seine geistigen Vorbereitungen in der Golah in Ägypten traf. Diese geistigen Anstrengungen sind unter anderem in den Namen seiner Kinder erkennbar geblieben. Wir verwenden diese Namen von Efraim und Menasche noch immer im Kindersegen an Freitagabend, dem Anfang des Schabbats.

 

Efraim: G“tt hat mich im Land meines Elends fruchtbar gemacht

Die Thora besagt über beide Namen: „Noch vor der Hungersnot erhielt Jossejf von Osnat, der Tochter von Potifar, zwei Söhne. Den Älteren nannte er Menasche, da er sagte „G“tt hat mich alles Elend und das Vermissen meiner Familie vergessen lassen“ und den jüngeren nannte er Efraim, da er sagte „G“tt hat mich im Land meines Elends fruchtbar gemacht“ (Bereschit/Gen. 41:50-52). Bei der Fortsetzung des Jüdischen Volkes spielten die jüdischen Namen eine wichtige Rolle, da sie wichtige Eigenschaften beim Überleben der Golah waren.

Was waren die Eigenschaften, die sich in diesen zwei Namen angedeutet befinden?

 

Der Name Efraim

Die Hebräische Endung –aim verweist auf eine Dualität. Dualität bedeutet zwei korrespondierende Dinge. Die Augen heißen in Hebräisch enaim, da sie immer „zusammenarbeiten“. Die Füße heißen raglaim, da sie den gleichen Schritt einhalten müssen, wenn wir nicht straucheln möchten.

 

was ist das Geheimnis der Jüdischen Kontinuität?

Efraim kann man lesen als vom Stamm „fri“ und dann bedeutet das zwei Mal (Dualität) fruchtbar. Es gelingt Jossejf, sowohl körperlich wie geistig fruchtbar zu sein und das Judentum – selbst in Ägypten – zu behalten und zu verbreiten. Dieses ist an für sich schon bemerkenswert, da Ägypten ein sehr mächtiges Reich mit einer sehr progressiven und dominierenden Kultur war, aber es wird noch interessanter, wenn wir begreifen, welche tiefere Psychologie sich hinter dieser „Fruchtbarkeit“ verbarg. Einfach gefragt: was ist das Geheimnis der Jüdischen Kontinuität?

 

Efer bedeutet im Hebräischen „Asche“

Das Jüdische Volk wird ab und zu mit dem kollektiven Namen Efraim angedeutet, entsprechend dem Passuk (Satz) im Prophet Jirmijahu (Jeremia 31:19): „Ist Efraim nicht „haben jakir li“, nicht mein geliebter Sohn, mein gehätscheltes Kind, wenn ich über ihn spreche, denke ich immer mehr an ihn, ICH möchte MICH über ihn erbarmen“. Die tiefere Bedeutung, die für unser jüdisches Durchhaltevermögen maßgeblich ist, kommt im Wort Efer zum Ausdruck. Efer bedeutet im Hebräischen „Asche“. Wenn wir uns selber im Bezug zum Allmächtigen als Asche betrachten und in Liebe und aus Achtung G“ttes Pfade folgen, können wir von einer Jüdischen Zukunft sicher sein. Die Asche lässt uns SEINE Pfade mit Achtung folgen. Denken wir an unseren ersten Erzvater Awraham, der ausrief: „ich bin nur Staub und Asche“ (Bereschit/Gen. 18:27). Seine Bescheidenheit zierte Awraham. Aber der zweite Erzvater, den wir mit Asche vergleichen, war Jitzchak, der sich beinahe auf dem hätte opfern lassen, was später Tempelberg heißen würde. Er wäre fast zu Asche reduziert worden, wäre es nicht gewesen, dass im letzten Augenblick ein Engel aus dem Himmel rief, dass Jitzchak am Leben bleiben solle (Gen. 22).

 

Wir benötigen beide Formen der Bescheidenheit in unserer Religion

Weshalb steht in diesem Zusammenhang dann doch wieder die Endung –aim (Efraim)? Da wir beide Formen der Bescheidenheit in unserer Religion benötigen. Awraham war der Mann der Liebe. Er diente G“tt aus lauter Liebe und holte seine Mitmenschen näher zur Thora heran. Jitzchak war der Mann der Introvertiertheit, der inneren Kraft des Widerstandes gegen das Negative in der Welt, ein Mann, der G“tt aus tiefer Achtung diente. Beide Eigenschaften sind als grundlegende Glaubensfundamente erforderlich, die die Basis für Glaubensdauerhaftigkeit bilden. Der Name Efraim steht für Dauerhaftigkeit in unserer Beziehung zu G“tt.

 

Der Name Menasche, die zwischenmenschliche Säule

Seinen ersten Sohn nannte Jossejf Menasche. Dieser Name wurde bekanntlich dadurch inspiriert, dass Jossejf die Probleme, die seine Brüder ihm durch ihren Hass und indem sie ihn nach Ägypten verkauften verursacht hatten, vergessen konnte: „Denn G‘tt hat mich all mein Elend vergessen lassen und die ganze Familie meines Vaters“. Aber Jossejf kommt im Midrasch (der Hintergrundliteratur) ganz anders in den Vordergrund. Seine Herkunft vergaß er keinen Augenblick. Die Lektionen seines Vaters, das Gelernte, trug er überall mit sich mit. Als er beinahe vor dem Charme von Suleika, der Frau von Potifar, drohte, schwach zu werden, erschien ihm eine Vision seines Vaters, der ihn warnte, nicht mit der Frau eines Anderen zu sündigen.

 

Jossejf blieb im heidnischen Ägypten Monotheist

Er führte „das Haus seines Vaters“ überall mit sich mit und machte aus seinem Herz wegen seiner Identität keine Mördergrube. Er stand uneingeschränkt zu ihr. Er blieb im heidnischen und götzendienstlichen Ägypten Monotheist.

 

die gegenseitige Verantwortung innerhalb des Jüdischen Volkes

Was hier eine Rolle spielte, war etwas komplett Anderes. Das Judentum kennt zwei Säulen: die Verbindung zum Allmächtigen und die Verbindung zum Mitmenschen. Wenn wir über die Dauerhaftigkeit des Jüdischen Volkes sprechen, geht es hauptsächlich um die gegenseitige Verantwortung innerhalb des Jüdischen Volkes.

 

Spirituelle Unterstützung

Dieses bedeutet nicht nur, dass wir uns in physischem Sinne unterstützen sollten, sondern dass wir uns auch für das gegenseitige Wohl und Ach im geistigen Sinne zu kümmern haben. Gerade unsere spirituelle gegenseitige Verantwortung hat uns im Laufe der Jahrhunderte, trotz des großen Druckes aus unserem Umfeld, unseren Glauben auf zu geben, überleben lassen.

 

Die zwischenmenschliche Säule

Im Bezug zu dieser zwischenmenschlichen Säule des Judentums läuft es, leider, auch oft verkehrt. Jossejf verstand das wie kein Anderer. Er war von seinen Brüdern als Sklave verkauft worden. Er wollte, dass seine Brüder hierüber zur Einkehr gelangen sollten. Er spielte mit seinen Brüdern am königlichen Hof ein Katz- und Mausspiel, indem er sie der Spionage beschuldigte. Benjamin wurde unter der falschen Anschuldigung des Diebstahls gefangen genommen. Die Brüder stellten sich gemeinsam, wie ein Block, vor Benjamin und das gegenüber dem stärksten Mann des mächtigsten Reiches der damaligen Zeit. Durch ihre Aufopferungsbereitschaft für Benjamin glichen sie den Verkauf von Jossejf – vor 22 Jahren – etwas aus.

 

Jede Verfehlung führt zu einer Strafe

Jede Verfehlung führt zu einer Strafe und andere Unannehmlichkeiten. Soeben in Ägypten angekommen, begriff Jossejf, dass er seinen Brüdern selbst die grausame Tat seines Verkaufes zu verzeihen hätte. Sie würden ansonsten hierfür im spirituellen Sinn – in dieser oder in der künftigen Welt – büßen müssen. Je länger man mit dem wieder in Ordnung bringen wartet, was im zwischenmenschlichen Bereich schiefgelaufen war, desto schlimmer wird es. Nicht nur die gegenseitige Wut und der Ärger steigern sich, auch im Himmel braucht sich unser geistiger Kredit auf. Jossejf versuchte mit aller Macht all das Elend, das ihn in seinem elterlichen Zuhause begegnet war, zu vergessen.

So würde die Missetat von Kidnapping und Menschenhandel seiner Brüder gelindert werden. Die Uhr des Hasses und der Wut hörte einigermaßen mit dem Ticken auf, indem sich Jossejf davon lösen konnte. Auch einseitige Verzeihung ist Verzeihung. Die Anhäufung gegenseitiger Aggression wird hierdurch ermäßigt und der Bruch wird durch einseitige psychische Tätigkeit kein sich wiederholender Bruch.

er verdrängte und vergaß seinen Schmerz

Indem er seinen Schmerz verdrängte und vergaß, sorgte Jossejf dafür, dass seine Brüder beim Himmlischen Gericht etwas glimpflicher ankamen, als dass der Fall gewesen wäre, wenn er als ein wütendes Opfer seine Klage beim Himmlischen Gericht vorgebracht hätte. Somit gab es mildernde Umstände. Jossejf sorgte in Ägypten nicht nur für das körperliche Wohl seiner Brüder, sondern achtete auch auf die „Kleinigkeiten“, auf die wichtigen geistigen Aspekte seines Mitmenschen, die hier auf Erden anscheinend klein und unbedeutend zu sein scheinen, aber in den Augen von G“tt außerordentlich wesentlich und wichtig sind.

 

Beitrage zu unserem religiösen Erbe und Fortdauer

Deshalb werden die Namen seiner Kinder in der Thora vermerkt. Kinder sind wichtig, aber sie werden noch interessanter, wenn sie zu unserem religiösen Erbe und Fortdauer beitragen. Efraim und Menasche sind nicht nur historische Figuren aus einer längst verflogenen Vergangenheit, sondern stehen auch noch immer als Garanten für Am Jisra’ejl Chaij!

 

Author: © Oberrabbiner Raphael Evers | Raawi Jüdisches Magazin

Foto: Pharaoh’s Army Engulfed by the Red Sea / © 1900 Frederick Arthur Bridgman