Pessachseder: Afikoman vor Mitternacht essen

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Afikoman vor Mitternacht essen (halacha; behandelt ein komplexes halachisches Thema)

 

„Man darf nach dem Pessachopfer keinen Nachtisch mehr essen“

In der Mischna Berura (477:6) heißt es, dass man darauf achten sollte, den Afikoman vor Mitternacht zu essen. Im Talmud gibt es dazu unterschiedliche Meinungen. Nach Rabbi Elasar ben Azaria (B.T. Berachot 9) darf das Pessachopfer nur bis Mitternacht gegessen werden. Heute ersetzt die Matza das Pessachopfer, und deshalb darf die Matza in der Seider-Nacht nur bis Mitternacht (Chazot) gegessen werden.

 

Rabbi Akiwa: die ganze Nacht

Rabbi Akiwa ist anderer Meinung und meint, dass das Pessachopfer die ganze Nacht hindurch gegessen werden kann. Deshalb kann die Matza heute auch bis zum Morgengrauen gegessen werden.

 

Meinungsverschiedenheit unter den Rischonim

Unter den Rischonim (1000-1500) gibt es eine Meinungsverschiedenheit darüber, ob die Halacha Rabbi Elasar ben Azaria folgt, weil in vielen Mischnaiot (Traditionen) seiner Meinung gefolgt wird, oder ob die Halacha Rabbi Akiwa folgt, weil die Regel lautet, dass die Halacha Rabbi Akiwa folgt, wenn Rabbi Akiwa und ein Zeitgenosse nicht einer Meinung sind.

 

Afikoman nicht nach Mitternacht essen

Maimonides, der Rav Hamagid, der Ba’al Haitur, der Or Zaru’a im Namen des Ri von Courbeil sagen alle, dass die Zeit für den Verzehr des Pessachopfers Mitternacht ist, und einige sagen, dass die Meinung des Rif auch so ist. Rabbenu Channanel, der Semak im Namen des Ri, Rabbenu Jerucham und der Or Zaru’a, der Rokeach, der Rosch, der Raschba und der Ran haben Zweifel und schreiben, dass man auf jeden Fall darauf achten sollte, es nicht nach Chazot (Mitternacht) zu essen.

Der Awné Nezer, der Rebbe von Sochotschov (Orach Chaim II:381), hat eine große „chap“, ein großartiger Gedanke, entdeckt. Wenn wir viel über den Auszug aus Ägypten erzählen wollen und dies bis nach Chatzot andauert und wir danach auch noch essen wollen, ohne in Schwierigkeiten mit der Frage zu geraten, ob es richtig ist, dass wir den Afikoman nach Chatzot essen dürfen, sollte man wie folgt vorgehen.

 

Einige Minuten vor Mitternacht nimmt man eine kezait (olivengroße) Matza und stellt die folgende Bedingung:

„Wenn die Halacha besagt, dass man den Afikoman vor Mitternacht essen muss, wie Rabbi Elasar ben Azaria meint, dann esse ich diese olivengroße Matza als Mitzwa des Afikoman“. Dann isst man den Afikoman, hält einen Moment inne, wartet und isst nichts mehr bis zum genauen Zeitpunkt um Mitternacht. Da man nach Rabbi Elasar ben Azarja nach Mitternacht keinen Korban Pesach mehr essen darf, ist es nach der Halacha erlaubt, zu essen, was man will. Die Regel, „dass man nach dem Pessachopfer keinen Nachtisch essen darf“, gilt nur, wenn man seine Pflicht erfüllt, indem man das Pessachopfer isst, also bis Mitternacht. Aber nach Mitternacht ist wieder alles erlaubt.

 

Außerdem heißt es: „Und wenn die Halacha besagt, dass die Mitzwa des Korban Pesach (und heutzutage das Essen von Matza Afikoman) die ganze Nacht dauert, dann ist die letzte olivengroße Matza, die ich nach Chatzot esse, für die Mitzwa des Afikoman bestimmt, und bis dahin kann ich essen, was ich will.“

Rabbi Chaim von Wolozhyn fragte sich, warum der Gaon von Wilna den Afikoman immer vor Mitternacht (Chatzot) essen wollte. Hätte er nicht die Bedingung von den Rebbe von Sotschotow stellen können und so jeden Zweifel vermeiden können?

Er antwortete, dass der Gaon von Wilna der Meinung war, dass es bei Machloket (Meinungsverschiedenheit) von Rabbi Elasar ben Azarja und Rabbi Akiwa um die Frage ging, wie die Halacha mit den Geboten der Tora übereinstimmt.

Doch selbst Rabbi Akiwa, der der Meinung ist, dass die Zeit des Verzehrs des Korban Pesach die ganze Nacht ist, gibt zu, dass man das Korban Pesach vorsichtshalber nicht später als Chatzot essen sollte. Dies ist auch das Din (Halacha) beim Lesen des Schema (B.T. Berachot, Anfang). Daher muss man nach der Meinung von Rabbi Akiwa vor Mitternacht mit dem Essen des Afikomans fertig sein (so verstanden der Mordechai, viele andere Rischonim und Acharonim (1500 bis heute) die Meinung von Rabbi Akiwa; siehe auch die Mischna Berura im Namen des Gaon von Wilna).

 

Raschba: nach Rabbi Akiwa keine Vorsichtsmaßnahmen

Der Raschba (B.T. Berachot 9) ist der Meinung, dass man nach Rabbi Akiwa keine Vorsichtsmaßnahmen treffen muss und es erlaubt ist, das Korban Pesach und nun auch die Matza des Afikomans bis zum Morgen zu essen. Dies ist auch die Meinung von Rabbi Yehuda heChassid. In der Praxis folgen einige Leute der Meinung des Awné Nezer, andere wiederum folgen dem Gaon von Wilna.

Der Grund dafür, dass das Afikoman a-priori vor Mitternacht gegessen werden muss, liegt darin, dass die zehnte Plage (der Tod der Erstgeborenen) und die Eile, mit der sich die Menschen auf den Auszug aus Ägypten vorbereiteten, zu dieser Zeit stattfanden.

Autor: © Oberrabbiner Raphael Evers