Individuelle Förderung zum Abbau von Lernrückständen: Hamburger Mentorenprogramm „Anschluss“ erfolgreich

Bildung
Lesezeit: 6 Minuten

Bei der Veröffentlichung der aktuellen PISA-Studie vor wenigen Tagen forderte die Studienleitung im Hinblick auf die deutschlandweit eingebrochenen Lernleistungen unter anderem eine stärkere individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern. Schulsenator Ties Rabe: „Jetzt zeigt eine Auswertung des Hamburger Mentorenprogramms „Anschluss“ durch das Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ), wie erfolgreich individuelle Förderung in Hamburg bereits läuft. Die Lernentwicklung vieler Schülerinnen und Schüler konnte gesteigert, ihre Lernrückstände konnten verringert werden. In Deutsch-Leseversehen konnte die Leistungsentwicklung um fast 40 Punkte, in Mathematik um fast 30 Punkte gesteigert, der Abstand im Vergleich zu anderen Schülern somit deutlich verringert werden.“

Seit Programmstart im August 2021 wurden schon 11.365 Schülerinnen und Schüler in kleinen von Mentorinnen und Mentoren betreuten Lerngruppen gefördert.“ Bereits eine vorangegangene Studie des renommierten Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) hatte die Hamburger Fördermaßnahmen ausdrücklich gelobt.

Schulsenator Ties Rabe und das Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) haben heute die wissenschaftliche Auswertung des Lernförderprogramms „Anschluss“ vorgestellt. Senator Rabe: „Das Programm richtet sich an Schülerinnen und Schüler der 4. Klassenstufe im Übergang auf die weiterführenden Schulen, wurde zunächst von der Schulbehörde und dem Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung in Kooperation mit der ZEIT-Stiftung und der Universität Hamburg durchgeführt und wird seit 2023 in alleiniger Verantwortung des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) organisiert und koordiniert. Ich freue mich sehr, dass so viele Schülerinnen und Schüler von diesem Lernförderprogramm profitieren und ihre Lernleistungen verbessern konnten.“

Manuel Hartung, Vorstandsvorsitzender der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS: „Wie die PISA-Studie 2023 wieder zeigt, spielen Herkunft und sozialer Hintergrund nach wie vor eine große Rolle, wenn es um Bildungschancen geht. Wenn Kinder mit schlechteren Voraussetzungen starten, zieht sich das meist durch die spätere schulische Laufbahn. Um das zu ändern, braucht es die gemeinsame Kraftanstrengung von Staat und Gesellschaft – und zwar von Anfang an. Dass die Behörde für Schule und Berufsbildung unser erfolgreiches Mentoring-Programm WEICHENSTELLUNG zum Vorbild nimmt und die gezielte Förderung von Viertklässler:innen in Hamburg nun verstetigt, freut mich sehr. Dies belegt die Wirksamkeit der Pionierarbeit. Die institutionelle Fortführung unseres Modells markiert den Beginn eines neuen Kapitels für die Bildungsgerechtigkeit vieler Kinder. Die ZEIT STIFTUNG BUCERIUS hat als ein zentrales Ziel, chancengerechte Bildung zu ermöglichen — daher freut mich die Verstetigung besonders.“

Um den Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule zu erleichtern, wurden für alle leistungsschwächeren Kinder aller vierten Klassen nachmittags zusätzliche Lernkurse angeboten. Unter der Anleitung von speziell geschulten (vorwiegend studentischen) Mentorinnen und Mentoren trainieren die Kinder in kleinen Gruppen von vier bis fünf Schülerinnen und Schülern Basiskompetenzen wie zum Beispiel Lesen, Textverständnis, Schreiben und Mathematik. Die Kurse finden zusätzlich zum Regelunterricht zwei Mal wöchentlich nachmittags mit je zwei Unterrichtsstunden statt.

Neben dem fachlichen Lernen geht es auch darum, die Kinder in ihrer Persönlichkeit und Lernmotivation zu stärken und ihr selbstgesteuertes Lernen zu fördern, um sie gut auf den Wechsel an die weiterführende Schule vorzubereiten. Die Mentorinnen und Mentoren werden gezielt auf ihre Aufgabe vorbereitet und erhalten Vorschläge für geeignetes Unterrichtsmaterial, das sich am Regelunterricht und den Bildungsplänen orientiert. Das Programm wird seit dem aktuellen Schuljahr in allen Grundschulen in sozial benachteiligter Lage fortgesetzt.

Die Mentorinnen und Mentoren erhalten eine Qualifizierung und werden projektbegleitend von erfahrenen Expertinnen und Experten aus der Lehrerbildung und Unterrichtsentwicklung begleitet. Zudem können sie über die neue Lernplattform „IGEL“ (Das Hamburger Portal mit Informationen und Materialien für individuelle gezielte Lernförderung) auf Unterstützungsangebote für die Vorbereitung und Durchführung ihrer Kurse (Fördermaterialien mit didaktischen Hinweisen etc.) zugreifen. Jede Schule hat eine „Anschluss“-Senior-Mentorin bzw. einen „Anschluss“-Senior-Mentor benannt, der oder die das Programm vor Ort koordiniert und Ansprechperson für die Honorarkräfte ist. Für die Senior-Mentorinnen und -Mentoren bietet das LI sowohl einführende als auch begleitende Seminare an. Das Angebot findet unter dem Dach und in der Regie der Schule in vertrauter Lernatmosphäre statt. Die Schule benennt in Absprache mit den Sorgeberechtigten die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler.

Wissenschaftliche Evaluation des Programms durch das IfBQ
Die wissenschaftliche Evaluation wurde von Februar 2022 bis Juli 2023 durchgeführt. Dafür wurden Daten der Schulstatistik und der Lernstandserhebungen KERMIT genutzt. Darüber hinaus wurden Befragungen der Schulleitungen, Klassenlehrkräfte und Mentorinnen und Mentoren sowie Beobachtungen in den Anschluss-Kursen durchgeführt. Die Erhebungen wurden an einer repräsentativen Stichprobe von 47 Grundschulen, die anhand der Kriterien Sozialindex, Bezirk und Ganztagsform ausgewählt wurden, durchgeführt.

Das Anschlussprogramm wird überwiegend von Lehramtsstudierenden durchgeführt und wird von allen Beteiligten gut angenommen, was sich in den hohen Beteiligungs- und geringen Abbruchquoten zeigt. Die Mentorinnen und Mentoren sind externe Lernbegleiter, die die Lernleistung der Schülerinnen und Schüler auch nicht bewerten, es besteht so ein anderes Schüler-Lehrer-Verhältnis als im regulären Unterricht. Wie die Teilnahmedaten belegen, erreichte das Programm auch tatsächlich die Schülerinnen und Schüler, die pandemiebedingten Förderbedarf aufwiesen. Dies zeigt sich an den erheblichen Lernrückständen im Bereich Deutsch- Leseverstehen und Mathematik (KERMIT 3) und auch in den geringeren überfachlichen Kompetenzen der teilnehmenden Kinder.

Sowohl Schulleitungen als auch die Mentorinnen und Mentoren äußern sich insgesamt positiv über das Programm. Die Akzeptanz auf Seiten des Kollegiums ist hoch, und es gelang gut, Eltern von dem Programm zu überzeugen. Die Mentorinnen und Mentoren erleben ihre Arbeit in den Kursen als wert- und sinnvoll und können sich eine weitere Tätigkeit an den Grundschulen mehrheitlich gut vorstellen. Zum Teil waren sie allerdings mit erheblichen Störungen konfrontiert. Aus den Beobachtungen wurde deutlich, wie unterschiedlich die Kurse organisiert und gestaltet werden. Wichtig für den Erfolg scheint eine gute Integration in den Schulalltag zu sein, eine positive Konnotation und eine bedarfsgerechte Ausgestaltung.

Die Wirksamkeit des Programms konnte anhand der Kompetenzmessungen nachgewiesen werden. So zeigen die Schülerinnen und Schüler, die an „Anschluss“ teilgenommen haben, signifikant höhere Lernzuwächse in Deutsch und Mathematik als ihre Mitschülerinnen und -schüler, die nicht am Programm teilgenommen haben und konnten in ihren Kompetenzständen erheblich aufholen.

Als Herausforderung beschreiben die Schulleitungen die Rekrutierung von Mentorinnen und Mentoren, die Bereitstellung von Räumlichkeiten und die Integration in den Schulalltag. Für die Mentorinnen und Mentoren ist der Umgang mit schwierigen und konfliktreichen Situationen besonders herausfordernd. Hier ist zu überlegen, wie die Mentorinnen und Mentoren in ihrer Arbeit noch besser unterstützt und begleitet werden können.

Teilnahmedaten am Anschluss-Programm
Seit dem Programmstart im August 2021 und bis Juli 2023 nahmen bis zu 213 Grundschulen, Spezielle Sonderschulen und ReBBZ am Programm teil. Hierbei wurden insgesamt 10.272 Schülerinnen und Schüler der Jahrgansstufe 4 in durchschnittlich 500 Lerngruppen pro Schuljahr von bis zu 491 Mentorinnen und Mentoren begleitet. Aktuell nehmen, fokussiert auf Standorte mit geringem Sozialindex 1-3, 1.093 Schülerinnen und Schüler in insgesamt 229 Lerngruppen an 70 Schulen teil, davon an 62 Grundschulen und acht Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ), betreut durch 179 Mentorinnen und Mentoren.

Das Programm wurde bis Sommer 2023 durch Mittel des Bundesprogramms „Aufholen nach Corona“ finanziert, seit diesem Schuljahr übernimmt die Schulbehörde die Finanzierung des Programms.

Neue IGEL-Plattform mit Unterrichtsmaterialen für die Lernförderung
Die neue Plattform IGEL („IGEL – das Hamburger Portal für individuelle gezielte Lernförderung“) wurde vom Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung für alle in Lernfördermaßnahmen tätigen Akteurinnen und Akteure entwickelt, um diese mit Informationen, Hinweisen und Unterrichtsmaterialien auszustatten. IGEL enthält unter anderem umfassende Datenbanken mit qualitätsgeprüften Unterrichtsmaterialien für die Fächer Deutsch, Deutsch als Zweitsprache und Mathematik sowie für die Förderung der überfachlichen Kompetenzen. Die Materialien können in allen Formen der Lernförderung eingesetzt werden und richten sich derzeit an Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 1 bis 10. Materialien für die gezielte Vorbereitung auf die Schulabschlüsse ESA und MSA sind ebenfalls enthalten.

Um Förderlehrkräften die Suche nach geeignetem Material zu erleichtern, wurden für IGEL eigene Such-/Filtermaschinen programmiert. Neben der gezielten Recherche von Unterrichtsmaterialien kann IGEL von Förderlehrkräften und Honorarkräften genutzt werden, um sich z.B. anhand von kurzen Videos zu Fragen aus dem Bereich der „individuellen Förderung“ fortzubilden.

IGEL ist erreichbar unter:

https://lms.lernen.hamburg/course/view.php?id=73313, die Kurz-URL https://t1p.de/z4x4k