Spirituelle und physische Selbstdefinition

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In der Parscha Schemot lesen wir von der Gründung des Jüdischen Volkes. Der dritte Erzvater Ja’akow zieht mit einer großen Familie von 70 Personen nach Ägypten. Dort aber „wurden die Israeliten fruchtbar und vermehrten sich reichlich. Sie wurden zahlreich und äußerst mächtig, so dass das Land voll von ihnen wurde“ (Ex 1,7). Sie wurden in Ägypten zu einem Volk, das sich der Unterdrückung widersetzte. Nach dem Auszug aus Ägypten bestand unser einziges Ziel darin, die Tora am Berg Sinai zu empfangen.

 

Der Auftrag des Volkes

Ich habe immer geglaubt, dass wir das Volk des Buches, der Tora, waren und sind. Das habe ich überall geschrieben und immer verteidigt. In den Krieg zu ziehen, war nie unser „Ding“. Wir kennen keine Heldenverehrung und verabscheuen Gewalt. So war es in den letzten 2.000 Jahren, und diese Haltung hat unser Volk viele Menschenleben gekostet. So bin ich nach Auschwitz erzogen worden.

 

Schon in der Genesis steht, dass wir den Kampf für gute Zwecke nicht scheuen

Diese Woche hatte ich das Privileg, wieder einmal einen der inspirierendesten Rabbiner der Vergangenheit und dieses Jahrhunderts sprechen zu hören: Rabbi Israel Meir Lau, der frühere Oberrabbiner von Israel. Er hat mir die Augen geöffnet. Er sagte es ohne zu zögern: Auch wir sind das Volk des Kampfes. Und das steht schon in der Bibel am Anfang unserer Volkswerdung. Schon bevor wir ein Volk waren, haben wir gegen grausame Könige, Ungerechtigkeit, Korruption und Entmenschlichung gekämpft und alles getan, um Kriegsgefangene und Geiseln zu befreien. Schon vor Samson, Gideon oder König David erhoben sich unsere Vorfahren, um Unrecht zu beseitigen.

 

Kriegsgefangenschaft und Geiselnahme

Unser erster Erzvate Abram tat alles, was er konnte, um seinen Neffen Lot, aber auch die Bewohner von Sodom und Gomorra aus der Gefangenschaft zu befreien (Gen. 14: 8-24): „Da zog der König von Sodom in den Krieg mit dem König von Gomorra, dem König von Adama, dem König von Zeboim und dem König von Bela – dem heutigen Zoar – und sie zogen in den Kampf gegen … Kedor-Laomer, den König von Elam, Tideal, den König der Völker, Amrafel, den König von Sinear, und Arioch, den König von Elasar; vier Könige gegen fünf… Sie nahmen alles, was Sodom und Gomorra besaßen, und alle ihre Vorräte, und zogen aus. Sie nahmen auch Lot, den Sohn von Abrams Bruder, und seine Habe mit… Da kam einer, der entkommen war, und erzählte Abram, dem Hebräer; er wohnte bei den Eichen des Amoriters Mamre, des Bruders von Eskol und Aner. Sie waren Verbündete von Abram.

 

Kleine, aber motivierte Armee

Als Abram hörte, dass sein Bruder als Gefangener verschleppt worden war, bewaffnete er seine ausgebildeten, in seinem Haus geborenen Männer, 318 Mann, und verfolgte sie bis nach Dan.

Er teilte in der Nacht seine Männer in Gruppen ein, und besiegte die Gegner im Kampf und er verfolgte sie bis nach Hoba, das links von Damaskus liegt.

Und er brachte alle Besitztümer zurück, auch seinen Bruder Lot und dessen Besitztümer sowie die Frauen und das Volk.

Der König von Sodom sagte zu Abram: Gib mir das Volk, aber behalte die Güter für dich. Abram aber sagte zum König von Sodom: Ich schwöre bei G’tt, dem Allerhöchsten, dem Himmel und Erde gehören, dass ich nichts nehmen werde, vom Faden bis zum Schuhband, ja, nichts von allem, was dir gehört, damit du nicht sagen kannst: Ich habe Abram reich gemacht.“

 

Wir erfinden uns neu

Der Groschen ist endgültig gefallen. Ich muss – leider gezwungen durch einen rücksichtslosen Angreifer und ein extrem feindliches Umfeld – unsere Selbstdefinition überarbeiten. Abram war schon alt: über 100 Jahre alt. Er zögerte keine Sekunde, sich für die Kriegsgefangenen gegen die stärksten Machthaber der damaligen Zeit einzusetzen. Mit einer kleinen, aber entschlossenen Armee verfolgte Abram die Entführer bis in die Nähe von Damaskus, weit entfernt von seiner Heimatstadt Hebron.  Kein Meer war ihm zu hoch, um seine Familie und die übrigen Bewohner von Sodom und Gomorra zu befreien.

 

„Was den Vorvätern widerfahren ist, ist ein Zeichen für die Nachwelt“

sagt der Talmud. Auch wir haben – nach 2.000 Jahren wehrloser Opfer – lernen müssen, um unser Leben, unser Land, unsere Kinder, unsere Zukunft und unsere Bürger zu kämpfen, die von einem Feind, der keine Gnade kennt, in Kriegsgefangenschaft genommen wurden.  Ich habe dies immer als eine „Schande“ für unser Volk empfunden, dieses Aufeinanderprallen der Waffen, das uns immer umgab.

Aber ich muss lernen, mich damit zu versöhnen, nach all den Kriegen, die unser Heiliges Land verwüstet haben, seit wir in den Nahen Osten eingewandert sind. Wir waren – wie die Tora es ausdrückt – immer die „Kleinsten unter den Völkern“ und sind es bis heute geblieben. Wir haben es mit sieben feindlich gesinnten Nachbarländern zu tun und mit vielen weiteren, die uns nicht das Licht der Welt erblicken lassen.

 

 Psalm 121,4-8: „Siehe, der Hüter Israels schlummert und schläft nicht.

G’tt ist dein Hüter, G’tt ist dein Schatten zu deiner Rechten … G’tt wird dich vor allem Bösen bewahren, deine Seele wird er bewahren. G’tt wird dein Raus- und Reingehen bewahren, von jetzt an bis in Ewigkeit“.

 

© Oberrabbiner Raphael Evers