Vorvorige Woche lasen wir in der Thora über Rechte und Pflichten. Vorige Woche ging es um die Liebe zum Höheren und Wohltätigkeit bei der Erstellung des Tabernakels, des (mit)ziehenden Heiligtums.
Harmonie zwischen G“tt und dem Menschen hat auch eine soziale Auswirkung
Diese Woche lesen wir über die Kleidung der Kohanim (Priester). Eine der Aufgaben dieser speziellen Priesterkleidung (bigdej kehuna) war, dass diese Kleidung auf das Erreichen von Kappara – Sühne/Versöhnung und Harmonie zwischen G“tt und dem Menschen, ausgerichtet war. Das kann auf privater Ebene gelten, gilt aber auch für die Gemeinschaft als Ganzes. Versöhnung und Harmonie zwischen G“tt und dem Menschen hat auch eine soziale Auswirkung. Ossej schalom bimromav – hu ja’assej schalom alejnu sprechen und singen wir jeden Tag in unseren Gebeten. Wörtlich bedeutet das: G“tt, Der Frieden und Harmonie in Seinen Himmelshöhen schafft, möge das auch bei uns – zwischen den Menschen – schaffen.
Wir benötigen immer G“ttes Segen und Mitarbeit
Für eine gute Gemeinschaft benötigen wir absolut G“ttes Segen und Mitarbeit. Es erfordert viel Geduld und sehr viel guten Willen, um das ideale Zusammenleben, das letztendlich in den Messianischen Zeiten kommen wird, schon jetzt einigermaßen eine Basis zu geben.
Wie gelangen wir zu einem friedlichen und harmonischen Zusammenleben? Die Basis eines zivilisierten Zusammenlebens – im Hebräischen als derech eretz zusammengefasst – besteht minimal aus einem richtigen Gleichgewicht von Nehmen und Geben. Wir sollten damit anfangen, denn ohne dieses besteht überhaupt keine Aussicht auf „Tikun Olam“ – der Verbesserung unserer Jüdischen Welt und der Welt um uns herum. Die Medien sind überhäuft mit Angaben zu Einschränkungen aufgrund von Corona, Klimazielen und den besten Arten, um die irdische Wohlfahrt zu teilen. Schöne Ideale, aber letztendlich ist das Grundlegendste, dass wir zuerst versuchen sollten zu erreichen, dass wir als Menschen menschlich miteinander umgehen. In unserer Zeit von Egomanismus und aufgeplustertes Ich scheint dieses Letztere komplett aus den Augen verloren gegangen zu sein. Schade, denn es hätte so schön sein können.
Gleichgewicht von Nehmen und Geben
Wir hatten die Anweisung – dort in der unwirtlichen Wüste – ein Heiligtum auf Erden zu erstellen. G“tt wollte zwischen den Menschen weilen. Alle Thora-Kommentatoren vermerken jedoch, dass einem guten religiösen Leben – der Beziehung zwischen Mensch und G“tt – ein ausgewogenes gesellschaftliches Leben vorab zu erfolgen hat: Derech-eretz – ein guter zwischenmenschlicher Kontakt – ist die Grundlage für Thora und Judentum.
das strenge Recht, ist auch Teil unserer alltäglichen Wirklichkeit
Es hat etwas Paradoxes, aber letztendlich bildet das strenge Recht, wie die Liebe und Mitmenschlichkeit, Teil unserer alltäglichen Wirklichkeit.
Und diese Gegebenheit ist jetzt noch genau so aktuell, wie vor 3333 Jahre. Ich gehe mal eben mit Ihnen in die Zeit zurück. Charlie Hebdo. Das steht mir noch deutlich vor Augen. Bei den Debatten nach den brutalen Mordereignissen in Paris fiel ich vor lauter Staunen über die Unverschämtheiten, mit denen manche Wortführer alle Rechte für sich anforderten, aber nicht bereit waren, auch nur etwas eines Anderen zu tolerieren, fast von meinem Fernsehsessel.
Freiheit der Meinungsäußerung
Um was ging es? Um die Freiheit der Meinungsäußerung. Aber die ist kein grenzenloses Recht. Auch mit diesem Menschenrecht sollte sehr sorgfältig umgegangen werden.
der Rest ist Erläuterung
Im Talmud steht eine Aussage von Hillel (1. Jahrhundert), als er von einem Heiden gebeten wurde, die gesamte Thora, auf nur EINEM Bein stehend, zu unterrichten. Hillel sagte: „Was Du nicht möchtest, dass es Dir geschieht, das tue auch einem Anderen nicht an. Das ist die Essenz des Thora-Gesetzes – der Rest ist Erläuterung“ (B.T. Schabbat 31a).
keine uneingeschränkten Grundrechte
Unsere Gesetzgebung kennt keine uneingeschränkten Grundrechte. Auch bei der Freiheit der Meinungsäußerung darfst Du keine verkehrten Dinge über den König oder über das Staatsoberhaupt, über Staatsgeheimnisse oder Gruppen sagen. Diskriminierung ist verboten und die Leugnung des Holocaust ist strafbar.
Selbsteinschränkung ist der Respekt vor den Rechten eines Anderen
Trotz des großen Gutes der freien Meinungsäußerung kennt auch dieses Grundrecht eine Anzahl von Einschränkungen. Die Selbsteinschränkung ist der Respekt vor den Rechten eines Anderen, aber auch vor den eigenen.
beleidigenden Frustrationen auf jemandem anderen abwälzen
Das Jüdische Gesetz verbietet bösartiges Geschwätz und das Beleidigen. Die freie Meinungsäußerung bedeutet nie, dass Du Deine beleidigenden Frustrationen auf jemandem anderen abwälzen darfst. Aber das hat allerdings auch eine Doppelwirkung.
Das merkwürdige Phänomen, dass man das Recht auf Meinungsfreiheit für sich selbst einfordert, aber nicht für Andere anerkennt, ist inzwischen bei verschiedenen Gruppierungen in unserem Zusammenleben Gemeingut geworden.
untergräbt direkt auch die Glaubwürdigkeit
Schade! Das trägt nicht zum gegenseitigen Verständnis bei. Und untergräbt direkt auch die Glaubwürdigkeit desjenigen, der nur Rechte für sich selbst einfordert.
Die Anerkennung von und der Respekt vor den Rechten und Freiheiten eines Anderen sollten jedem, der Rechte für sich selbst einfordert, immer vor Augen stehen.
Wieso? In einem Rechtstaat darf doch ALLES gesagt werden?
Also nicht. Du hast immer die Rechte eines Anderen zu berücksichtigen. Außerdem beweist das von Frustrationen, wenn Du darauf hinaus bist, Andere zu beleidigen oder sie zu erniedrigen. Das sollte ein anständiger Mensch nicht einmal wollen.
Die Meinung sollte hauptsächlich etwas Positives herüberbringen und etwas Inhaltliches beitragen. Nur Andere zu erniedrigen, kann nie die Absicht des Grundrechtes der freien Meinungsäußerung gewesen sein. In manchen Situationen wird es selbst Lebensgefährlich, um stigmatisiert und systematisch beschuldigt und ausgeschlossen zu werden, wie es letztendlich dann zum Holocaust gelangte.
Freiheitsmissbrauch
In unserer zerbrechlichen, spröden Demokratie darf die eigene Freiheit nicht dazu missbraucht werden, die Freiheit eines Anderen unmöglich zu machen.
Übernehme Verantwortung für Deine Aussagen
Es geht letztendlich um Verantwortung. Übernehme Verantwortung für Deine Aussagen, indem Du diese klar auf Fakten basierst, siehe zu, nicht zu einseitig zu sein (höre beiden Seiten zu, sagt die Thora) und passe auf, nicht unnötig zu verletzen. Das wäre eine schöne und erwachsene Auslegung der Worte „Verantwortung vor dem Gesetz“. So schaffen wir zusammen, wir gemeinsam, ein Heiligtum auf Erden.
Author: © Oberrabbiner Raphael Evers | Raawi Jüdisches Magazin