Raawi trifft: Marina Baranova – „Offenen Antisemitismus habe ich noch nicht erlebt.“

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Marina Baranova weiß das ein oder andere über das Herbeizaubern fantastischer Welten zu berichten. Angefangen in ihrer Kindheit, als sie mit ihren aufgeschlagenen Märchenbüchern am Klavier saß, um die Bilder, die sie sah, in Klangwelten zu übersetzen, bis hin zu ihrem 2018 erschienen Album Unfolding Debussy, auf dem sie sich eine dunklere Seite Debussys vorgestellt hat. Die Fantasie des ukrainischen Komponisten und Pianisten nimmt seit jeher eine aktive Rolle in der Musik, die sie spielt, ein. Für ihre jüngste Veröffentlichung, Atlas of Imaginary Places, überließ sie ihrer Vorstellungskraft nun sogar ganz das Ruder.

Dafür arbeitete Baranova mit Dänemarks bildendem Künstler Christian Gundtoft und dem ukrainischen Schriftsteller Volodymyr Kompaniets zusammen, um mehr als nur ein Album zu konzipieren. „Ich wollte dieses alternative Hörerlebnis schaffen“, erklärt sie, „unterschätze niemals die Kraft des Vorstellungsvermögens, gerade jetzt mehr denn je ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass dieser Schatz in uns wohnt.“

Wir haben Marina Baranova getroffen und wollten natürlich auch wissen, woher denn ihre Leidenschaft zur Musik kommt und wie hilfreich ihr das absolute Gehör dabei ist:

Meine Eltern sind beide Berufsmusiker, deshalb haben sie das absolute Gehör schon früh festgestellt. Da war ich ungefähr vier Jahre alt und hatte noch nicht mit der Musik begonnen. Ich wusste gar nicht, wie die Töne heißen. Ich habe nur die einzelnen Töne gespielt und dazu Farben gesehen. Ich hörte also den Ton C und der war dann rot. Danach habe ich immer Farben benutzt, um die Töne zu benennen. So habe ich gelernt. Ein absolutes Gehör ist schon hilfreich, für Künstler. Allerdings glaube ich nicht, dass es unbedingt notwendig ist, um einen guten Musiker zu sein.

 

 Sie kommen eigentlich aus der Ukraine und leben nun seit 20 Jahren in Deutschland. Warum ist Deutschland Ihre neue Wahlheimat?

Meine Familie und ich, wir sind alle emigriert worden. Erst mal die ganze Familie mit den Großeltern und auch mein Bruder mit seiner Familie. Zuerst sind wir nach München gekommen. Mein Kindheitstraum war es aber schon immer in Hannover bei Professor Klein zu studieren. Professor Klein war in der Ukraine unglaublich bekannt. Ich war so ungefähr acht Jahre alt, da hat er ein Konzert in meiner Heimatstadt gespielt. Es war so wunderbar – ich hatte so was noch nie erlebt. Die Art wie er gespielt hat, gab mir so ein Kopfkino als wäre alles auf einer großen Leinwand. Mir war klar, dass ich bei ihm studieren möchte. Wir sind 2000 nach Deutschland gezogen und im gleichen Jahr habe ich angefangen, bei ihm in Hannover zu studieren.

 

Wie kamen Sie denn mit der Sprache zurecht?

Es war schlimm, da ich tatsächlich gar kein Deutsch gesprochen habe. Anfangs sprach ich auch mit meinem Professor nur Russisch und begann erst währen des Studiums Deutsch zu lernen. Es war relativ einfach in Hannover, weil das ungefähr so geklungen hat wie in den Hörbüchern oder bei den Vorlesungen und so weiter. Aber ich habe eine Zeit lang wirklich sehr viel Russisch weiterhin gesprochen.

 

Ihr neues Album ist wirklich sehr schön und besonders. Was hat Sie dazu inspiriert?

Als Corona begann habe ich anfangs überlegt, ob nur die Künstler ihr Publikum vermissen oder ob das auf Gegenseitigkeit beruht. Also habe ich mein Publikum angeschrieben und gefragt, ob sie Lust hätten auf einen musikalischen Austausch. Ich hatte so unglaublich berührende Rückmeldungen und da war die Idee. Ich bat also mein Publikum um Inspiration und ich habe wahnsinnig viel bekommen. Es ist wirklich unglaublich. Und dann jedes, jedes Foto oder jede Geschichte, die mit diesem Foto verbunden. Hat mich natürlich inspiriert und so sind viele Stücke entstanden, die sozusagen ohne diese Inspiration nicht zustande kommen wären.

Ich habe noch nie so viel Musik komponiert wie in dieser Zeit und das fühlte sich gut an. Jedes Mal, wenn ich ein Stück vertont habe, dann habe ich dies demjenigen geschickt, der mich dazu inspiriert hat. Das fühlte sich so an, als würden wir auf einer Insel landen, wo wir quasi alle Gleichgesinnten treffen, wo alles möglich ist. Durch diese Kommunikation auf dem Herzensweg entstand so ein gewisses mystisches Gefühl. Die Kompositionen habe ich dann einem befreundeten ukrainischen Schriftsteller geschickt. Einfach nur die Musik,ohne Titel, Namen ohne nichts. Eins, zwei, drei, vier, drei, siebzehn Stücke. Er schrieb dazu Texte, ohne Hintergründe, Gedanken oder Ideen zu kennen. Dasselbe ich dann auch mit einem befreundeten dänischen Maler getan. Wir alle drei sahen in dieser Musik eine Insel.

 

Sie sind ja auch Jüdin. Wie empfinden Sie das Leben in Deutschland als Jüdin?

Also meine Vorfahren waren eigentlich alle Juden. Es war gängig in unseren Ländern, dass Juden sich irgendwie immer zusammengetan haben und Juden Juden geheiratet haben. Mein Urgroßvater war ein Rabbiner. Das war aber schon zu dem Zeitpunkt, wo es verboten war. Also sie haben sich in Keller heimlich so eine Synagoge gebaut, ihre Nachnamen geändert und verschwiegen, dass sie Juden sind. Der Antisemitismus war sehr präsent. Trotzdem habe ich immer nach meinen Wurzeln gesucht. Das war mir wirklich sehr wichtig. Ich wusste aber nicht, wo ich suchen soll. Dann kam ich interessanterweise nach Deutschland und zum Ersten Mal in meinem Leben durfte ich dann offen sagen, dass ich Jüdin bin. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass die Deutschen anfangen zu weinen, wenn ich das offen sage. Diese Schuldgefühle sind echt enorm. Also bei der Generation, die eigentlich nicht in der Zeit gelebt hat. Offenen Antisemitismus habe ich so nie erlebt. Jetzt entdecke ich auch die jüdische Gemeinde in Hannover für mich, weil wir einen großartigen neuen Rabbiner haben.