Was ist wichtiger – das Leben selbst oder die Lebensqualität?

Lesezeit: 4 Minuten

Vor 250 Jahren war der Regent des Landes Berlin eingeladen, den Sederabend im Haus von Rabbiner Zvi Hirsch Levin, dem damaligen Rabbiner der Stadt, zu feiern. Der wichtige Gast saß am gedeckten Tisch und hörte aufmerksam zu, wie der kleine Sohn des Rabbiners sang: „Ma Nischtana“.

Als der Junge die vier Fragen beendet hatte, fragte der Regent neugierig, warum wir fragen, was an Pessach anders ist, wo wir zu Hause sitzen und am Tisch essen wie in jedem normalen Haus und wie im Laufe des Jahres, und nicht an Sukkot fragen, warum wir das warme Haus verlassen und uns in der Sukka zusammenkauern?

Der Rabbi antwortete ihm mit einem bitteren Lächeln: Die Juden sind an viele Schwierigkeiten gewöhnt. Unsere Geschichte ist voll von Versuchen, uns zu töten und zu vertreiben, daher ist es für uns eine normale Situation, wenn wir unser Zuhause verlassen müssen. Während wir aber um den Tisch sitzen und Freiheit feiern, fragen wir uns ´Ma Nischtana´- aber was ist an Sukkot anders?

Sukkot, einer der schönsten Feiertage im jüdischen Kalender, kommt unmittelbar nach den Hohen Feiertagen. Jedes Jahr enden wir mit der ernsten Atmosphäre von Rosch Haschana und Jom Kippur und gehen zu einer fröhlichen Stimmung über. Die Familie und die Gemeinschaft feiern alle gemeinsam in der Sukka. Auch im Gebet nennen wir Sukkot „Zeit unserer Freude“.

 

 

An diesem Feiertag werden wir an die Zeiterinnert, als wir Ägypten verließen, als wir auf dem Weg ins Land Israel waren. 40 Jahre Wandern, während derer wir in Sukkot, in provisorischen Laubhütten, schliefen, bis wir im Gelobten Land ankamen und dauerhafte Häuser bauten.

Und es stellt sich die einfache Frage: Ist das ein Grund zum Feiern? Normalerweise feiern Völker Tage, an denen ihnen eine dauerhafte Heimat, ein Nationalstaat, gegeben wurde. Auch innerhalb der Familie werden wir wahrscheinlich den Tag feiern, an dem wir unser Zuhause erhalten haben, und nicht die Irrwege und Herausforderungen auf dem Weg dorthin.

Die anderen Feiertage sind leicht zu verstehen. An Pessach wurden wir von Sklaverei befreit. An Schawuot erhielten wir die Tora. Aber das Wandern und die Ungewissheit zu feiern und es unsere glückliche Zeit zu nennen? Schauen wir uns die Diskussion an, die zwischen zwei Rabbinern in der Talmudzeit über die Bedeutung des Feiertags stattfand, Rabbi Elieser und Rabbi Akiva. In einem Vers in der Torah steht geschrieben: „Denn in Sukkot habe ich die Kinder Israels gesetzt“ – und sie waren sich uneinig, worauf sich die Torah mit „Sukkot“ bezieht.

Rabbi Eliezer sagte: Dies sind keine echten Sukkot, sondern es ist ein erstaunliches, übernatürliches Phänomen: Wolken, die das Volk Israel von allen Seiten umgaben und sie in der Wüste vor wilden Tieren, Feinden und der Hitze beschützten und ihm den Weg zeigten.

Rabbi Akiva sagte: es ist keine Metapher für andere Phänomene. Dies sind die Sukkot – die Zelte, in denen die Kinder Israels während der Jahre der Wüstenwanderung bis zu ihrer Ankunft im Land Israel lebten.

Warum also gilt Sukkot als der glücklichste Feiertag des Jahres – ein Feiertag, der Vergänglichkeit und Ungewissheit symbolisiert? Was ist ein größeres Wunder: Wolken, die das Volk Israel bedeckten oder klapprige Sukkot, die Schatten in der Wüste werfen?

Avraham Reisen, der vor 150 Jahren lebte, war ein jiddischer Dichter und schrieb die alte Melodie, die am meisten mit dem Feiertag in Verbindung gebracht wird. ´A Sukkhal’e a kleiner´. Eine Melodie, die von Juden an Sukkot gesungen wurde, selbst während der schwierigsten Zeiten der Einhaltung des Gebotes der Sukka, als man sich Autoritäten unterwerfen musste, die uns verfolgten, – mit dem festen Glauben, dass diese kleine Sukka immer noch die Macht habe die „Sukkat David“ (Zusatzzeile im Birkat haMason zu Sukkot) zu sein, wenn Maschiach kommt.

Eine der Passagen beschreibt das Gefühl der Unsicherheit und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft:

 

A Wind a kalten

bläst durch die Spalten

und die Lichter, sei löschen sich nicht

 

Es ist mir ein Chidusch (Neuigkeit)

wie ich mache mir Kiddusch

und die Lichter, sei brennen ganz still

 

Sei nicht kein Narr

hab nicht kein Za´ar (Trauer)

soll dir die Sukka nicht sein bang

 

Es ist schon gar

bald zweitausend Jahr‘

und die Sukka´le, sei steht noch ganz lang

 

Dies ist das große Wunder von Sukkot, dass G-tt den Kindern Israels Zelte in der Wüste zur Verfügung stellte, damit sie sich wohler fühlen würden. Auf diese Weise gab G-tt ihnen etwas Größere: die Fähigkeit, Ihm zu vertrauen, dass er sie weiterhin begleiten und mit allem versorgen würde, was sie brauchen wie ein Vater, der für sein Kind nicht nur für eine gute Schule und Kleidung sorgt, sondern ihm auch ein Eis kauft oder mit ihm spazieren geht und es nachts zudeckt, wenn es friert. Auch unser Vater, G-tt, hat uns nicht nur aus Ägypten heraus-und in das Land Israel geführt, sondern auch dafür gesorgt, dass wir unterwegs nicht leiden.

Diese Sukkot offenbarten uns eine weitere Facette unserer Beziehung zu G-tt. Gerade diese baufälligen Sukkot erinnern uns jedes Jahr aufs Neue daran, dass wir trotz der Schwierigkeiten und Herausforderungen, Corona und der Wirtschaftslage, jemanden haben, der uns begleitet und betreut.

 

Chag Sameach!

Rabbiner Shmuel Havlin