DIE JÜDISCHE AKADEMIE IN FRANKFURT AM MAIN

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Der Zentralrat der Juden in Deutschland wird im Spätsommer mit dem Bau der Jüdischen Akademie beginnen. Dies ist die erste überregionale jüdische Institution dieser Art, die nach der Schoa errichtet wird. Der Neubau, der eine frühere Professorenvilla integriert, wird in der Senckenberganlage in Frankfurt am Main entstehen. Der Erste Spatenstich im Beisein von Bundesinnenminister Horst Seehofer und dem hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier findet am Donnerstag, 2. September 2021, 14.00 Uhr statt. Dazu erhalten Sie eine gesonderte Presse-Einladung mit Möglichkeit zur Akkreditierung!

Der Bau der Jüdischen Akademie wurde vom Frankfurter Architekten Zvonko Turkali entworfen. Die Gesamtkosten des Projekts liegen bei 34, 5 Millionen Euro, die gemeinsam vom Bund, dem Land Hessen, der Stadt Frankfurt und dem Zentralrat der Juden getragen werden. Die Fertigstellung des Baus ist für Ende 2023 geplant. 2024 soll die Jüdische Akademie ihren Betrieb aufnehmen.

Die Jüdische Akademie steht in der Tradition des in den 1920er Jahren gegründeten Jüdischen Lehrhauses, das in Frankfurt von Franz Rosenzweig geleitet wurde. In der Akademie sollen wichtige öffentliche Diskurse aufgegriffen und um die jüdische Perspektive bereichert werden. Damit will die Jüdische Akademie dazu beitragen, die Akzeptanz für religiöse und kulturelle Pluralität in Deutschland zu erhöhen.

Dazu erklärt der Präsident des Zentralrats der Juden, Dr. Josef Schuster: „Das intellektuelle jüdische Leben erhält mit der Akademie einen neuen Mittelpunkt. Wir wollen sowohl der jüdischen Gemeinschaft in ihrer Pluralität eine Plattform bieten als auch vor dem Hintergrund der deutsch-jüdischen Geschichte in die Gesamtgesellschaft hineinwirken und den interreligiösen Dialog pflegen. Unterschiede aushalten und Gemeinsamkeiten stärken – das soll dieser moderne Ort jüdischen Denkens leisten.“

 

2013 startete der Zentralrat der Juden in Deutschland eine Bildungsoffensive: Seminare und Konferenzen zu Themen, die die jüdische Gemeinschaft bewegen, sowie Fortbildungen für Gemeindemitglieder werden seitdem von der Bildungsabteilung organisiert. Die Bildungsabteilung legte damit die Basis für die Jüdische Akademie, mit deren Bau im September in Frankfurt a. M. begonnen wird.

 

Aufgaben und Ziele

Mit ihrem Sitz in  Frankfurt am Main steht die Jüdische Akademie in der Tradition des von Franz Rosenzweig geleiteten Freien Jüdischen Lehrhauses in den 1920er Jahren. Sie soll als  als intellektueller Mittel- und Anziehungspunkt sowohl für Jüdinnen und Juden aus Deutschland und Europa als auch für Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften wirken, die an jüdischen, interkulturellen, interreligiösen oder universellen Fragestellungen interessiert sind. Die Jüdische Akademie wird öffentliche Diskurse aufgreifen, initiieren oder problematisieren und somit der jüdischen Stimme in Deutschland ein erkennbares Profil verleihen

Das jüdische Bildungsverständnis sieht sich besonders dem Postulat einer aktiven Toleranz und eines gleichberechtigten Miteinanders von Kulturen verpflichtet. Die Jüdische Akademie will gerade im Zeitalter der Globalisierung ihren Beitrag dazu leisten, dass die deutsche Gesellschaft kulturelle und religiöse Pluralität akzeptiert. Weiterhin sieht die Jüdische Akademie ihre Aufgabe – nach dem in der Schoa erfahrenen Zivilisationsbruch – in der kreativen und kritischen Aneignung des religiösen und kulturellen Erbes des europäischen und besonders des deutschen Judentums. Sie ist bestrebt, dieses Erbe in der Zukunftsdebatte sowohl in den Jüdischen Gemeinden als auch in der deutschen wie der europäischen Gesellschaft einzubringen. Zugleich möchte sie die Traditionen des in der ehemaligen Sowjetunion gewachsenen Judentums, die durch die Zuwanderung der russischsprachigen Juden in den Jüdischen Gemeinden zur Geltung kommen, würdigen und aufnehmen.

Die Jüdische Akademie ist vor dem Hintergrund der kulturellen und religiösen Vielfalt der in Deutschland lebenden jüdischen Gemeinschaft vor die Aufgabe gestellt, unterschiedlichen Bildungsverständnissen und – horizonten gerecht zu werden: so stehen religiös begründete Zugänge zu Bildung und Erziehung neben bildungsbürgerlich, säkular geprägten oder religionsfernen Ansätzen. Die Vermittlung eines aufgeklärten Judentums, in dem diese unterschiedlichen Traditionen ihren begründeten Platz haben und zugleich darum ringen, Juden unterschiedlicher Altersgruppen überzeugende Orientierungsangebote zu unterbreiten, fällt in den Aufgabenbereich der Jüdischen Akademie. Sie ist bestrebt im Rahmen ihrer pädagogischen Praxis die Herausbildung jüdischer Identitäten in der Moderne vertiefen.

 

Schwerpunkt-Themen:

Die Jüdische Akademie sieht ihre Aufgabe darin, die Kreativität, die Spannungen und Konflikte, die Chancen und Zukunftsaussichten der jüdischen  Gemeinschaft in Deutschland der Öffentlichkeit zu vermitteln und will damit einen eigenen Beitrag zur Fortentwicklung des erneuerten Judentums in Deutschland und Europa leisten.

Die Jüdische Akademie wird diesem Programm in vielfältigen „Formaten“ wie Seminaren, Konferenzen, Podiumsdiskussionen, Studientagen, Buchvorstellungen, Filmvorführungen, Vorträgen nachgehen und dabei besonders folgende Schwerpunkte behandeln:

 

1. Das Judentum – eine lebendige Religion in Geschichte und Gegenwart
Eine Vielfalt religiöser Strömungen und Liturgien von der Orthodoxie über das Reform-Judentum bis zu chassidischen Gruppen formen das jüdische Leben weltweit. Jüdische Bildungsarbeit hat den Anspruch, die innerjüdische Pluralität zum Thema zu machen und eine Plattform anzubieten, die sich mit den Positionen und Traditionen der unterschiedlichen religiösen Strömungen des Judentums auseinandersetzt.

 

2.   Jüdische Lebenswelten – Pluralisierung und Eigensinn
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist in den vergangenen Jahrzehnten durch die Zuwanderung von Juden nach Deutschland zahlenmäßig enorm gewachsen. Der aktive Beitrag der Jüdische Akademie bei der Präsentation und Entwicklung der jüdischen Pluralität besteht darin, Vertretern jüdischer Gruppen unterschiedlicher Altersgruppen sowie religiöser und kultureller Orientierungen ein Forum der Auseinandersetzung und Klärung der eigenen Identität sowie der kulturellen, politischen oder religiösen Orientierung zu bieten. Hierbei werden Veranstaltungen, in denen die sich verändernde Rolle und Position der Frauen in der jüdischen Lebenswelt sowie progressive und feministische Spektren thematisiert werden, ihren festen Platz haben.

 

3.   Das Verhältnis zu Israel
Die Verbindung zu dem Staat Israel ist für die meisten Juden sowie für die in Deutschland ansässigen jüdischen Institutionen zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Vor diesem Hintergrund sieht sich der jüdische Bildungsauftrag aufgefordert, die Pflege und Vertiefung bestehender Beziehungen mit israelischen Organisationen und Institutionen voranzutreiben. Dies trägt zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit den Belangen und Interessen der israelischen Gesellschaft und den dort vertretenen vielfältigen politischen, sozialen, kulturellen oder religiösen Vorstellungen bei.

 

4.   Aufklärung über die Schoa
Die Massenvernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Kollaborateure ist noch nicht in allen wesentlichen Dimensionen erforscht. Eine Aufgabe jüdischer Bildungsarbeit ist es, neue substantielle Ergebnisse historischer Forschung zur Debatte zu stellen.

Sie wird auch an der für die politische Bildung Deutschlands entscheidenden Diskussion teilnehmen, wie die Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen einer in Deutschland lebenden Jugend vermittelt werden kann, die in vielen Fällen einen Migrationshintergrund aufzuweisen hat.

 

5.  Erinnern und Gedenken in der deutschen Gesellschaft
Das Erinnern und Gedenken an die Vernichtung der europäischen Juden während der Schoa hat sich in Deutschland durch den zeitlichen Abstand zum Nationalsozialismus verändert. Sowohl in der deutschen Gesellschaft als auch in der jüdischen Gemeinschaft werden neue Formen der Gedenkkultur entwickelt, die eine identitätsstiftende Bedeutung begründen. Aufgabe der Jüdischen Akademie ist es, den Prozess der Erinnerungspraxis zu begleiten und zu reflektieren, und somit rechtsextremen und populistischen Versuchen, die Geschichte zu leugnen oder umzudeuten, entgegenzuwirken.

 

6.  Gefährdete Demokratie: Antisemitismus und Populismus
Die Zunahme rechtspopulistischer und antisemitischer Parteien und Bewegungen in Deutschland und Europa stellt die antisemitismuskritische Bildungsarbeit vor neue Herausforderungen. Unter komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen verbreiten sich häufig Verschwörungsmythen. Die Jüdische Akademie sieht ihre Aufgabe vor dem Hintergrund des wachsenden Einflusses gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit darin, die Bedeutung rechtsstaatlich verankerter demokratischer Strukturen und Institutionen und der ihnen zugrundeliegenden politischen Kultur beharrlich hervorzuheben.

 

7.  Ästhetik, Kunst, Film und Literatur
Die Bandbreite jüdischen kulturellen Schaffens findet ihren Ausdruck in nahezu allen künstlerischen Bereichen der modernen Gesellschaft.
Diese tragen dazu bei, einen Einblick in eine von Juden und Jüdinnen geführte ästhetische und literarische Auseinandersetzung mit ihrer Lebenswelt in Deutschland, Europa, den USA und Israel zu gewinnen. Ein jüdisches Bildungskonzept sieht vor, als Forum entsprechender künstlerischer Werke aus der jüdischen Welt zu fungieren.

 

8. Jüdische Philosophie und Ethik
Die Lehren und Ideen des rabbinischen und talmudischen Judentums haben einen wesentlichen Beitrag zum modernen jüdischen Denken und seiner Kultur geleistet. Jüdische Philosophie und Ethik basieren auf diesem Denken und prägen zeitgenössische Diskurse und existenzielle Fragestellungen. Im Rahmen der Begleitung jüdischer Bildungsprozesse wird notwendigen sinn- und identitätsstiftenden Debatten Raum geben.

 

9. Interreligiöse (Streit-) Gespräche
Der christlich – jüdische Dialog hat in den vergangenen Jahrzehnten zu großen Fortschritten beim Abbau von Vorurteilen geführt. Die systematische Erforschung der Verantwortung der christlichen Theologie und der Kirchen für die Judenverfolgung ist Ausdruck eines veränderten Verständnisses christlicher Einstellungen gegenüber dem Judentum verbunden mit dem Wunsch, in einen stetigen Dialog mit Vertretern des Judentums zu treten. Die Jüdische Akademie wird sich  sowohl den historischen Wurzeln des christlichen Antijudaismus und des politischen Antisemitismus als auch dem rabbinischen Judentum als Basis moderner Philosophie intensiv widmen.
Mit dem Auf – und Ausbau eines spezifisch „jüdisch – islamischen“, theologisch und philosophisch geführten Dialogs wird die Jüdische Akademie einen neuen, eigenen Akzent setzen, um sowohl die historisch gewachsenen Unterschiede als auch die gemeinsamen Interessen als religiöse Minderheiten in Deutschland zu erkunden.

Quelle: Zentralrat der Juden in Deutschland 

Foto: Zentralrat der Juden in Deutschland | © Turkali Architekten