Ethische Vorschriften für unser Verhalten gegenüber Fremden, Witwen und Waisen

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Wir haben diese Woche viele Richtlinien für den Umgang mit den Schwachen in der Gesellschaft gelesen (Ex 22,21-24):

„Du sollst einen Fremden nicht ausbeuten und ihn nicht unterdrücken; denn ihr wart selbst Fremde im Land Ägypten. Du sollst keine Witwe und keine Waise unterdrücken. Wenn ihr sie nur geringfügig unterdrückt und sie nur geringfügig zu Mir um Hilfe schreien, werde Ich ihr Schreien gewiss erhören. Mein Zorn wird entbrennen und Ich werde euch mit dem Schwert töten, und eure Frauen werden zu Witwen und eure Kinder zu Waisen werden.“

 

Wir können die Frage viel umfassender stellen: Wie binden wir die Ethik des Judentums in unser tägliches Verhalten ein?

Die Ethik des Judentums hat viele Wissensquellen in praktisch allen Jüdischen Originalwerken, von der Tora, dem Talmud, dem Midrasch (Hintergrunderklärung) bis zu den vielen ethischen Schriften und Kommentaren von Gelehrten aus den letzten 15 Jahrhunderten.

Die jüdische Ethik wurzelt in einer tiefgreifenden und klar artikulierten moralischen Tradition, die sich aus diesen heiligen Texten ableitet.

Die jüdische Ethik hat ihre Wurzeln in einer tiefgreifenden und klar formulierten moralischen Tradition, die sich aus diesen heiligen Texten ableitet.

Einige grundlegende Prinzipien und Themen der Ethik im Judentum sind:

  1. Die Tora und die Wünsche G’ttes:

– Die Tora ist das Bindeglied zwischen G’tt und den Menschen und fungiert als G’ttes Leitfaden für ethisches Verhalten. Die Tora enthält die Wünsche G’ttes (Mizwot, Ge- und Verbote), die vorschreiben, wie sich die Menschen gegenüber G’tt, sich selbst und anderen verhalten sollen.

– Der Gehorsam gegenüber den Wünschen G’ttes, wie z.B. den Zehn Geboten und den vielen anderen Geboten und deren spätere Ausarbeitung bis ins kleinste Detail, trägt zu einer gerechten und ethischen Lebensweise und einer besseren Welt bei.

  1. Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit:

– Im Mittelpunkt unserer Tora steht die Bedeutung der Gerechtigkeit und das Streben nach einer gerechten Gesellschaft. Gerechtigkeit und Wohltätigkeit sind ein wesentlicher Bestandteil von G’ttes Plan mit der Welt.

– Dies zeigt sich im Engagement für Wohltätigkeit (Zedaka), fairen Handel, den Schutz der Schwachen und das Streben nach sozialer Gerechtigkeit.

  1. Ehrfurcht vor dem Leben:

– Wir messen der Unantastbarkeit des Lebens große Bedeutung bei. Mord und Schädigung anderer sind streng verboten.

– Wir schützen das menschliche Leben, ethische medizinische Entscheidungen und Mitgefühl für andere.

  1. Barmherzigkeit und Gnade:

– Barmherzigkeit ist ein G’ttliches Attribut, das wir Juden praktizieren sollten. Anderen gegenüber Barmherzigkeit zu zeigen, ist ein Zeichen moralischer Reife.

Dies manifestiert sich in Handlungen der Nächstenliebe, der Vergebung und der Hilfe für Bedürftige, sowohl spiritueller als auch materieller Art.

  1. Respekt für andere:

– Wir respektieren die Würde anderer, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder ihrem sozialen Status.

– Dies äußert sich in fairen Beziehungen, der Vermeidung von Verleumdungen, der Förderung von Gleichberechtigung und Toleranz.

  1. Ethische Selbstanalyse und Selbstverbesserung:

– Wir glauben an den Wert einer kontinuierlichen Selbstreflexion und ethischen Selbstverbesserung. Die Menschen werden ermutigt, nach moralischer Vollkommenheit zu streben.

– Dies spiegelt sich in regelmäßiger Selbstbeobachtung, Reue (Teschuwa) und dem Streben nach Tugenden wie Geduld und Freundlichkeit wider.

  1. Heiligkeit von Ehe und Familie:

– Wir betrachten die Familie als den kleinsten Eckpfeiler einer ethischen Gesellschaft. Die eheliche Treue und die Sorge für die Kinder sind wichtige moralische Pflichten.

– Wir schätzen die Werte der Familie, halten die eheliche Treue aufrecht und respektieren die Elternschaft.

  1. Verantwortung für die Umwelt:

– Wir betrachten die Bewahrung der Schöpfung als einen Jüdischen ethischen Wert. Wir werden ermutigt, die Natur und die Umwelt mit Sorgfalt zu behandeln.

– Das bedeutet für uns, Nachhaltigkeit zu fördern, umweltbewusst zu handeln und Respekt vor der Natur zu haben.

Wir legen großen Wert darauf, moralische Grundsätze in das tägliche Leben zu integrieren und eine soziale, heilige und gerechte Gesellschaft anzustreben.

  1. Krieg und Frieden

In der jüdischen Tradition ist die (vollkommene) Harmonie von zentraler Bedeutung. Es gibt praktisch kein Gebet in unserer Liturgie, das nicht das Wort Schalom enthält, vom Priestersegen bis zum Dankgebet nach der Mahlzeit (Levitikus Rabba 9,9).

Dennoch ist das Judentum keine bedingungslos pazifistische Religion. Der Weltfrieden ist ein Ideal, das nur in Messianischen Zeiten als erreichbar gilt. Das Judentum geht davon aus, dass Krieg manchmal gerechtfertigt ist, insbesondere wenn es sich um einen Verteidigungskrieg handelt. Dennoch ist die Rabbinische Ethik dem Krieg gegenüber abgeneigt. Kampf und Aggression werden nirgends verherrlicht.

Für das Tora-Studium und die Bewahrung religiöser Grundsätze im Allgemeinen gilt jedoch kein uneingeschränktes Friedenskonzept. Eine „Meinungsverschiedenheit pro bono“ wird geschätzt, weil sie zur Wahrheitsfindung beiträgt.

Der jüdische Ansatz zum Schalom scheint widersprüchlich. Man darf der Wahrheit Gewalt antun, um den Frieden zu bewahren, während ein verbaler Streit pro bono eigentlich als Geburtswehen der Wahrheit angesehen wird. Der Frieden steht in der jüdischen Wertehierarchie ganz oben, aber unter Umständen ist Gewalt sogar eine Tugend. Paradox und verwirrend!

Das Judentum ist jedoch eine Religion der Realität. Familienprobleme, Familienfehden, Nachbarschaftsstreitigkeiten, Religionsstreitigkeiten, Bürgerkriege und internationale Konflikte sind an der Tagesordnung und füllen tagtäglich die Medien. Der Friede auf Erden wurde von unseren Weisen in Messianische Zeiten verlegt.

  1. 10. Antisemitismus und Assimilation haben uns in den letzten 3800 Jahren ständig begleitet. Assimilation ist die Verwässerung der Jüdischen Identität und Zugehörigkeit. Antisemitismus ist einfach Judenhass, in welcher Form auch immer.

Beide Phänomene haben unserem Judentum und dem Jüdischen Volk sowohl quantitativ als auch qualitativ schweren Schaden zugefügt. Aus diesem Grund versuchen wir, beiden Phänomenen entgegenzuwirken, und wir zeigen hier eine gewisse Sensibilität.

Unser Glaube ist ein dynamisches System, das sich als Reaktion auf neue Herausforderungen und Kontexte ständig weiterentwickelt.

© Oberrabbiner Raphael Evers