Gedanken zu Schawuot | Rabbiner Nathan Grinberg

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Wie bekannt, ist Schawuot das Fest der Thoragabe. Bereits der Name an sich impliziert die Anwesenheit eines Empfängers. Wir haben mehrmals erwähnt, dass jeder Jude und jede Jüdin an diesem Fest die Thora empfangen muss, ähnlich wie das gesamte jüdische Volk vor 3500 Jahren Thora empfangen hat. Was bedeutet dies jedoch für uns praktisch? Gibt es etwas, was diesen Prozess behindern kann?

Um eine Antwort auf diese Fragen geben zu können, muss man vorerst verstehen, worin das Ziel der Toragabe besteht.  Selbstverständlich ist es unmöglich, dieses breite Thema vollständig zu beleuchten, jedoch können wir das Grundverständnis schaffen.

Der Schöpfer ermöglicht es seinem Geschöpf die Notwendigkeit der Vervollkommnung der Welt zu verstehen. Die Vervollkommnung ist die Aufgabe des Menschen selbst – durch die Verbesserung der eigenen Eigenschaften wird der Mensch zur Wurzel seiner eigenen Vollkommenheit. Die Thora gibt nur die Richtung vor, bestimmt das Ziel und bietet die Anleitung dazu.

Man würde denken, jetzt müsste man sich nur die Thora schnappen und anfangen, die Welt und sich selbst zu verbessern. Jedoch ist es nicht so einfach.

Ist das Befolgen religiöser Weisungen in der Thora ausreichend, um die Vollkommenheit zu erreichen? Überraschenderweise treffen die Weisen des Talmuds folgende provokative Aussage „Derech erez kadma le Tora“ – „Die Ethik geht der Thora voraus“. In anderen Worten, das Vorhandensein von ethischen Normen ermöglicht das ordnungsgemäße Einhalten der Gebote. Ein Mensch, der die Moral vernachlässigt, ist nicht in der Lage, die Gebote einzuhalten und kann durch die unangemessene Einhaltung der Gebote sogar den Sinn der Thoraeinhaltung verzerren. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Menschen sich niederträchtig verhalten können, ohne gegen die formalen Gesetze der Thora zu verstoßen.

In seinem Kommentar zum ethischen Traktat „Pirkei Avot“ beschreibt Rambam die Notwendigkeit der Verbesserung menschlicher Eigenschaften als eine Voraussetzung für das Erlernen der Thora, denn sie ersetzt nicht das grundlegende Moralverständnis. In der Menschheitsgeschichte einschließlich des 20. Jahrhunderts gibt es genügend Beispiele dafür, wie der Mensch und selbst ganze Nationen sich verhalten können, wenn die Religion als Geberin der Verhaltensvorschriften wegfällt und Menschen dabei keine moralischen Normen besitzen.

Das Licht der Thora scheint für alle und immer. Der einzige Grund dafür, dass wir seine Anwesenheit nicht wahrnehmen, ist die mangelnde Bereitschaft unseres Gefäßes, das Licht wahrzunehmen. Aus diesem Grund ist einer der notwendigen Wege, Thora zu empfangen, die Beschäftigung mit der Moral. Gutherziger und geduldiger sein, den „gerechten Zorn“ in Schach halten und eigene Fehler eingestehen. Und wenn das Ego des Menschen schrumpft, stellt sich heraus, dass es genug Platz für die Thora und G-tt gibt.

Chag sameach!

Author: © Rabbiner Nathan Grinberg | Raawi Jüdisches Magazin

 

Schawuot