Spirituelle Erfahrung in Elul: Slichot, Bußgebete

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Letztes Jahr besuchte ich zum ersten Mal den Motzei Schabbat (Samstagabend) Slichot Abendgottesdienst in der Synagoge. Die Slichot (Bitt-und Bußgebete für Rosch Haschana) wurden gesanglich vorgetragen. Es war für mich eine besondere Erfahrung mit hohem spirituellem Wert.

Die Tage, an denen die Slichot, zusätzliche Bitt-und Bußgebete in Vorbereitung auf die Hohen Feiertage, gesprochen werden – beginnen für die Aschkenasischen Juden am Motzei Schabbat, dem 29. August, oder am Sonntagmorgen, dem 30. August, während die Sephardim schon früher, am 1 Elul / 9. August, beginnen, also noch mitten in der Ferienzeit. Bei den Aschkenasischen Juden wird auch während des Monats Elul das Schofar geblasen.

Slichot müssen zu Teschuwa (Einkehr und Reue) führen. Teschuwa muss zur Veränderung führen.

 

Die Zahl vierzig

Innerhalb von 40 Tagen – vom Beginn von des Monats Elul bis zu Jom Kippur – befassen wir uns mit den Slichot, dem Schofar und der Teschuwa. Wir steigen hinab in die Tiefen unseres Selbst mit der Absicht, wieder etwas daran wachsen zu können. Es braucht Mut, den Status quo in uns selbst verändern zu wollen. G’tt erwartet nichts anderes von uns. Wir dürfen nicht, so wie wir jetzt sind, mit uns selbst zufrieden sein.

40 ist die Zahl der Veränderung. Zur Zeit Noachs, als die Welt verbessert werden sollte, dauerte die Flut 40 Tage und 40 Nächte an. Eine Mikwe, ein rituelles Bad, in dem man von unrein zu rein oder von nichtJüdisch zu Jüdisch werden kann, muss mindestens 40 Maß Wasser enthalten.

Ein Fötus wird erst 40 Tage nach der Empfängnis zu einem beginnenden menschlichen Wesen. Mosche empfing die Thora, die auf dem Berg Sinai geschrieben wurde, erst nach 40 Tagen. Das Jüdische Volk wanderte 40 Jahre lang durch die Wüste, und erst dann wurde es wahrhaft zum Jüdischen Volk. Rabbi Akiva änderte sein Leben erst, als er 40 Jahre alt war.

40 ist die Zahl der Veränderung.

 

Rabbi Naftali Zwi Yehuda Berlin

Vor 200 Jahren gab es einen neun Jahre alten Jungen der in der Jeschiwa, seiner Schule, die er besuchte, nicht sein Bestes gab. Und dadurch wurden auf ihn auch keinerlei Erwartungen mehr gerichtet. Eines Abends, als der Junge hätte schlafen sollen, hörte er seine Eltern im Nebenzimmer über seine Zukunft reden. Sein verzweifelter Vater weinte, er sagte, dass er alles versucht hatte, von Fördermaßnahmen bis hin zu Nachhilfelehrern, aber alles keine keine Wirkung gezeigt hatte. Seine Eltern kamen zu dem Schluss, dass sie keine andere Wahl hatten. Sie mussten ihn aus der Jeschiwa, seiner Schule, nehmen, und er solle bei einem Schuster oder Schneider in die Lehre gehen. Der kleine Junge schlief deprimiert ein.

 

unser Potenzial ausschöpfen

Er hatte einen Traum, und in seinem Traum sah er ein wunderschönes Bücherregal, gefüllt mit den wunderbarsten Jüdischen Büchern. Es gab den Kommentar -Ha-ameek Davar – zum Chumasch, zur Thora. Es gab einen dreibändigen Kommentar, Ha-ameek She-ela, zu den Sche‘iltot. Es gab eine Reihe von Responsen, Meschjev Davar, und einen Kommentar, Merome Hassade, zur Gemara (Talmud). In seinem Traum blätterte der kleine Junge in den Büchern und er fragte, wer diese schönen Werke voll tiefer Gedanken geschrieben habe. In seinem Traum hörte er, dass diese Bücher von ihm geschrieben werden würden. Der kleine Junge wachte auf und versprach sich von da an, seinen Jüdischen Studien zu widmen.

Aus dem kleinen Jungen wurde der bekannte Netziv, Rabbi Naftali Zwi Yehuda Berlin, der Rosch (Leiter der) Jeschiwa von Wolozin, und Autor jener großen Werke, von denen er als Kind geträumt hatte. Als er die Ha’meek She’ela beendet hatte, gab  er ein Se’udat Hoda’a (Dankesmahl), bei dem er seine Geschichte erzählte und seinen Zuhörern vorschlug: Stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn ich meine eigenen Maßstäbe nicht erreicht hätte.

Teschuwa (Reue) bedeutet nicht, uns selbst zu geisseln: Es bedeutet, an uns selbst zu wachsen und unser Potenzial auszuschöpfen. Nicht jeder kann das gleiche tun. Zuerst müssen wir sehen, wozu wir fähig sind. Teschuwa bedeutet, zu dem zurückzukehren, was wir in unserem tiefsten Wesen bereits sind.

 

Reb Zushe weinte

Als Rebbe Zushe auf seinem Sterbebett lag, begann er zu lachen. Seine Chassidim fragten den Rebbe nach dem Grund. Er sagte: „Wenn ich vor dem himmlischen Gericht stehen werde, werden sie mich fragen: ‚Zushe, warum bist du nicht wie Awraham?‘ Und ich werde antworten: ‚weil du mich nicht wie Awraham gemacht hast‘. Er lachte wieder. Er sagte: „Wenn die Leute mich fragen werden, warum ich nicht wie Mosche Rabbenu bin, werde ich antworten: weil ich nicht wie Mosche Rabbenu gemacht wurde“. Und dann begann der Rebbe zu weinen.

Warum weinst du?“, fragten die Chassidim. Zushe antwortete: ‚denn ich begreife jetzt, dass sie mich fragen werden: ‚Zushe, warum bist du nicht Zushe geworden?‘

Nutzen wir die kommenden Tage, um unser verborgenes Potenzial zu finden, sich anzuspornen, sich zu erheben und sich selbst zu verwirklichen. Lasst uns Teschuwa machen. Nicht, um uns in etwas Neues zu verwandeln, sondern nur, um zu dem zurückzukehren, was unsere Neschama Tehora (Seele) in uns ist und immer war.

Schana tova umetuka! Ich wünsche Ihnen ein gutes und süßes Jahr 5782.

 

Author: © Oberrabbiner Evers | Raawi Jüdisches Magazin