Ki Tissa: Erhielten die Anbeter des Goldenen Kalbes einen ehrlichen Prozess?

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„Steige nach unten hinab, denn Dein Volk, das Du aus Ägypten heraus geführt hast, ist schnell vom Weg abgewichen, den ICH ihnen befohlen habe und sie haben sich ein geschmolzenes Kalb gefertigt“ (Ex. 32:7-8).

Schmot/Exodus 32:27-28: „Mosche stellte sich in die Pforte des Lagerplatzes und sprach: „Wer ist für G“tt? Der komme zu mir!“. Die gesamten Leviten versammelten sich bei Mosche und Mosche sprach zu ihnen: „So sagte G“tt: „Jeder gürte sein Schwert an seine Hüfte und gehe hin und wieder im Lagerplatz von Türe zu Türe, und jeder hat seinen Bruder, seinen Verwandten und seinen Nächsten zu töten“. Die Leviten befolgten das Wort von Mosche und an jenem Tag fielen vom Volk ungefähr drei Tausend Männer“.

 

Eifersucht oder ein ehrlicher Prozess?

Hatten die Götzenanbeter kein Anrecht auf einen ehrlichen Prozess? Wie können die Leviten so viele Juden in der Wüste getötet haben? Ist das eine Tat aus Eifersucht, endlich eine Gelegenheit für Extremisten und Fundamentalisten, ihre Wut an Sündern ab zu kühlen?

Wenn wir die Ereignisse, die vor dem Goldenen Kalb erfolgten, näher unter die Lupe nehmen, können wie besser verstehen, wie unsere Tradition mit Götzenanbetern umgeht. Nach vierzig Tage ohne Schlaf und Nahrung kehrt Mosche mit den Zehn Geboten zurück, die durch G“tt Selber eingraviert wurden. Bei seinem Abstieg nach unten befürchtete er das Schlimmste. Das Volk war dem Götzendienst verfallen. Wie war es möglich, dass man, nach der Offenbarung auf dem Berg Sinai, nach den Zehn Geboten, so tief sinken konnte? Wie konnten die befreiten Sklaven ihrem Befreier gegenüber so undankbar sein?

 

Neues Volk, Mosche als Gründungsvater

G“tt macht Mosche einen Vorschlag. G“tt möchte das Volk vernichten und ein neues Volk, mit Mosche als Gründungsvater, aufbauen. Mosche lehnt dieses Angebot ab, hält eine große Befürwortungsrede und drängt bei G“tt darauf, dass ER mit den Nachkommen von Awraham, Jitzchak und Ja’akow weiter machen soll. Mosche spricht zu G“tt:

„Ein Tisch mit drei Beinen (ein Volk mit drei Erzvätern) kann  somit nicht stehen bleiben (sie verfallen ab und zu der Sünde), dann kann doch sicherlich ein Tisch mit nur EINEM Bein (wenn ich der Gründungsvater des Jüdischen Volkes werde) nicht stehen bleiben“. Mosche hält eine Fürsprache für Israel wegen G“ttes Bund und Versprechen an sie und an ihre Vorfahren. Seine Anstrengungen werden von Erfolg gekrönt.

 

Die Leviten stellen den Dienst an G“tt über ihre eigenen Gefühle

Aber der Vorfall mit dem Goldenen Kalb kann nicht ungestraft bleiben. Die Angelegenheit ist klar. Auf Götzendienst steht die Todesstrafe. Mosche sucht nach Menschen, um das Urteil um zu setzen. Die Leviten bieten sich an: sie stellen den Dienst an G“tt über ihre eigenen Gefühle. Sie widmen sich ihrer Aufgabe so gut, dass Mosche sie als Diener des G“ttesdienstes aufnimmt, an Stelle der Bechorim (der Erstgeborenen), die das bis dahin taten.

In dieser Episode gibt es jedoch einen schwierigen Punkt. Als Mosche den Auftrag erteilt, die Götzenanbeter zu töten, stellt er dieses so dar, als sei das im Namen von HaSchem: „G“tt spricht wie folgt: „Jeder sollte sein Schwert umgürten“ (32:27). Wo steht in der Thora, dass G“tt das auch tatsächlich gesagt hat? Raschi ist dieses Problem aufgefallen und er verweist uns zur Sidra der vorigen Woche: „Jeder, der für Götzen opfert, soll zum Tode gebracht werden“ (22:19).

 

Tore oder Türen sind Gerichtshöfe

Der Midrasch kommt jedoch mit einer anderen Erläuterung über den Abschnitt. Dass Mosche „im Tor des Lagers stand“ (Schmot/Exodus 32:26) legen unsere Erklärer so aus, dass mit „Tor“ meistens der Sanhedrin gemeint sei, der Gerichtshof von einundsiebzig Ältesten. Bevor Mosche die Anordnung erteilte, die Sünder zu exekutieren, befragte er den Sanhedrin, der die höchste richterliche Autorität war. Jeder der drei Tausend Straffälligen hat zweifellos einen eigenen Prozess und Urteil erhalten, wobei Zeugen und Warnungen von Anfang an nicht fehlten. Deshalb befand sich Mosche Rabbejnu im Tor des Gerichtshofes.

 

Mit offenem Visier

Die meisten Scharfrichter bedecken ihr Haupt aus Scham oder aus Angst vor Vergeltungen. Im Judentum wird auch vom Vollstrecker erwartet, dass er ein hohes moralisches Niveau besitzt. Mosche’s Worte „Der an der Seite G“ttes steht“ verpflichteten nicht so sehr, die „Seite oder Gruppe G“ttes“ zu wählen, sondern beziehen sich viel mehr auf die Art der Persönlichkeit, die in dieser äußerst unerquickenden Geschichte als Henker oder Scharfrichter in Frage kommt.

 

Kein Hass, Wut, Rachegelüste oder Bitterkeit

Viele Juden hatten dem Goldenen Kalb selber nicht beigepflichtet, aber ihre passive Haltung zeigte einen ungenügenden Charakter und den Mangel an wirklicher Widmung zum Judentum. Mosche suchte Menschen, die so zugewendet waren, dass ihre einzigen Beweggründe die Aufwertung des Jüdischen Volkes waren. Nur DIESE Menschen durften die Vollstrecker des Todesurteils werden. Die Aussage „Jeder töte seinen Bruder“ ist nicht nur ein Auftrag, sondern ebenfalls eine Andeutung des Charakters und der Persönlichkeit der Henker. Kein Hass, Wut, Rachegelüste oder Bitterkeit dürfte sie bewegen. Sie sollten aufrichtige brüderliche Empfindungen gegenüber denjenigen hegen, die sie zu exekutieren hatten. Wäre dieses nicht der Fall, würde nur die eine Gewalt gegen die andere Gewalt zur Anwendung gelangen.

 

Keine Mörder

Möchte man das Schlechte vernichten, dann sollte man sauber ausgerichtet und aktiv motiviert sein, es sollte die Rede von Commitment sein. Die einzigen Beweggründe sollten die Liebe zu G“tt oder der Hass gegen das Böse sein. Man darf nicht gegenüber dem Menschen hasserfüllt sein, denjenigen, der als Person das Böse begangen hat, da jeder Mensch Teschuwa machen kann und sich selber zum Positiven verändern kann. Nach dem Aufruf von Mosche steht dort „Und die Söhne von Levi handelten nach dem Wort von Mosche und an jenem Tag fielen drei Tausend Menschen“. Im Satz wird das Wort „Morden“ nicht vermerkt, da die Leviten keine Mörder waren.

Götzendienst sollte zum Willen des Glaubens und der Aufwertung des Jüdischen Volkes vermieden werden. Aber das bedeutet nicht, dass man blindlings darauf losschlagen dürfe. Ein ehrlicher Prozess, ein vorurteilsloser Richter, ein Henker mit lauteren Motivationen sind wichtige Bereiche des juristischen Systems der Thora.

 

Author: © Oberrabbiner Raphael Evers | Raawi Jüdisches Magazin

Foto: The Golden Calf | © 1896 James Tissot