In Vorbereitung auf das Erscheinen G*ttes auf dem Berg Sinai standen Moses und das Volk Israel „am Fuße des Berges“ (Exodus 19,17) und warteten darauf, zu sehen und zu hören, was geschehen würde.
Die ungewöhnliche Präposition – be-tachtit („am Fuß des“) – wird im Midrasch so verstanden, dass das jüdische Volk buchstäblich unter dem Berg stand. Das heißt, in dem Moment, in dem Gott die Zehn Gebote spricht, reißt Gott auch den Berg Sinai aus dem Boden und hält ihn über das Volk, als wolle er sagen: „Wenn ihr die Tora annehmt, gut; wenn nicht, wird dies euer Grab sein.“ Avodah Zarah 2b Die Implikation ist, dass das jüdische Volk die Tora nur unter Zwang angenommen hat.
Die Beschreibung der darauf folgenden Ereignisse unterstreicht diese Interpretation nur. Der Donner, die Blitze und die dicken Wolken, die die Anwesenheit Gottes auf dem Berg Sinai begleiten, versetzen das Volk in Angst und Schrecken (Exodus 20:14), und es bittet Moses, für es zu sprechen.
Viele jüdische Gemeinden gedenken dieses Ereignisses am Feiertag Schawuot. Das Ereignis wird oft als z’man matan torateinu („die Zeit der Übergabe der Tora“) bezeichnet, und manche feiern den Jahrestag, indem sie die ganze Nacht aufbleiben und studieren. Doch angesichts des biblischen und rabbinischen Verständnisses dieses Moments können wir uns durchaus fragen, ob die Feier eines „Geschenks“ nicht sowohl erzwungen als auch furchteinflößend ist.
Ein anderer Brauch an Schawuot könnte Aufschluss geben: die Rezitation des Buches Ruth, die in vielen Gemeinden am zweiten Tag des Feiertags gelesen wird.
In der kurzen Geschichte geht es um die tiefe Beziehung zwischen der Heldin und ihrer Schwiegermutter Naomi aus Bethlehem, die nach dem Tod ihres Mannes und ihrer beiden Söhne entstanden ist. Auf ihrer Heimreise drängt Naomi ihre Schwiegertochter, in ihrer Heimat Moab zu bleiben, doch Ruth weigert sich und spricht diese ikonischen Worte: „Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; wo du wohnst, da will auch ich wohnen; dein Volk soll mein Volk sein, und dein Gott soll mein Gott sein“ (Ruth 1,16).
Diese Worte können im Dialog mit der Geschichte im Exodus gelesen werden. Sie sind sicherlich nicht weniger verbindlich als das gemeinsame Bekenntnis der Israeliten am Sinai: „Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun und ihm gehorchen.“ Exodus 24,7. In der Tat wird Ruths Erklärung als Beweis dafür verstanden, dass sie den Bund auf sich genommen hat. In der rabbinischen Vorstellung wird sie zur prototypischen Konvertitin. So wie sich das jüdische Volk auf dem Berg in der Wüste vor dem Gott Israels versammelte, so klammert sich auch Ruth auf der Straße in Moab an Naomi und ruft den Gott Israels an.
Aber die Kontexte sind sehr unterschiedlich. Der belebende Wert im Buch Ruth ist chesed (Güte und Liebe) und Loyalität, die über die einfache Pflicht hinausgehen, die in der leidenschaftslosen Antwort der Israeliten, na’aseh v’nishma („wir werden tun und gehorchen“), zum Ausdruck kommt. Schließlich endet Ruths Versprechen an Noomi mit dem ultimativen Schwur: „Wo du stirbst, werde ich sterben, und dort werde ich begraben werden“ (Ruth1,17). Im weiteren Verlauf des Buches erwidert Naomi die Fürsorge ihrer Schwiegertochter, der reiche Landbesitzer Boas zeigt sich beiden Frauen gegenüber freundlich und großzügig, und alle drei freuen sich über die Geburt von Obed.
Selbst Gott ist anders. Im Buch Exodus ist Gott eine laute, physische Kraft, die Berge versetzt. Im Buch Ruth ist Gott die stille, aber unaufhaltsame Aktivität, die die Figuren von der Leere zur Erfüllung führt.
Vielleicht ist das der Grund dafür, dass es üblich ist, jeden Morgen beim Legen der Tefillin Ruths Worte zu sprechen, ihr Credo der Hingabe und Treue, das rezitiert wird, wenn die Schachteln zwischen die Augen und auf den Arm gelegt werden – man nimmt buchstäblich die Worte der Tora auf sich. Das Ritual beschwört das Bild von Ruth, die auf der Reise zu Naomi spricht, nachdem beide ihren Mann verloren haben, zwei Frauen, die sich in der Hoffnung auf eine bessere gemeinsame Zukunft aneinander klammern. Es ist ein Akt, in dem man sich zu einem Partner in Gottes fortwährendem Werk in der Welt macht.
Ruths Beziehung zu Naomi und zur Tora kann ein Modell für unsere eigene Ausrichtung auf das Schawuot-Fest sein. Im Buch Exodus erleben die Israeliten eine überwältigende Machtdemonstration, die sie vor Angst zittern lässt und den Wunsch weckt, sich von dem zu distanzieren, was aus den Wolken um den Berg aufsteigen könnte. Im Buch Ruth stellt sie sich – nicht minder im Dunkeln – mutig und mit ganzem Herzen dem, was auf sie zukommen mag.
Schawuot wird „die Zeit des Gebens der Tora“ und nicht „die Zeit des Empfangens der Tora“ genannt. Die Weisen weisen darauf hin, dass das Geben an einem Tag an ein Volk stattfand, das Empfangen aber zu allen Zeiten und in allen Generationen stattfindet.
Wenn wir an Schawuot die Übergabe der Tora feiern, mögen wir jeden Tag mit der Liebe und Vertrautheit handeln, die Ruth beim Empfangen der Tora vorgelebt hat.