David Berger
Anton Fliegerbauer
Ze’ev Friedman
Yossef Gutfreund
Eliezer Halfin
Yossef Romano
Amitzur Shapira
Kehat Shor
Mark Slavin
Andrei Spitzer
Yakov Springer
Moshe Weinberg
Wir kommen zusammen, um zu gedenken und zu trauern. Wir trauern um zwölf Menschen, die vor fünfzig Jahren beim schlimmsten Terroranschlag in der Geschichte der damals noch jungen Bundesrepublik auf grauenvolle Weise ihr Leben verloren. Wir trauern um elf Sportler und einen Polizisten. Elf jüdische Sportler, Trainer und Kampfrichter, die als Teil der israelischen Mannschaft nach München gereist waren, mit großen Ambitionen und großen Hoffnungen.
Alle Hoffnung endete in einem Albtraum.
Acht schwer bewaffnete Mitglieder des palästinensischen Terrorkommandos „Schwarzer September“
drangen am frühen Morgen des 5. September 1972 vollkommen ungehindert in das Olympische Dorf ein und nahmen die elf israelischen Sportler als Geiseln. Zwei von ihnen ermordeten sie schon im Quartier in der Connollystraße 31 grausam, die neun anderen hier an diesem Ort, an dem die Befreiungsaktion der deutschen Einsatzkräfte katastrophal scheiterte. Sie endete in einem Blutbad.
Elf jüdische Sportler waren tot, ermordet in Deutschland. Ausgerechnet in Deutschland.
Sehr geehrte Gäste, heute ist ein Tag der Trauer, des Gedenkens und des Innehaltens. Ich bin zutiefst dankbar, dass Sie, die Familien der Opfer, heute hier sind, auch, dass Sie, sehr verehrter Herr Präsident Herzog, heute hier und an meiner Seite sind. Ohne Sie alle, ohne die Angehörigen und ohne die Präsenz des Staates Israel war mir würdiges Gedenken nicht vorstellbar. Ich bedanke mich bei allen, die in den letzten Wochen dazu beigetragen haben, dass ein gemeinsames Gedenken heute möglich wurde.
Verehrte Angehörige, wir können nicht ermessen, welches Leid, welchen Schmerz Sie durchlitten haben. Wir können nur erahnen, was der Verlust Ihrer Söhne, Ehemänner, Väter für Sie bedeutet hat und immer noch bedeutet.
Wie lebt man weiter als junge Frau, die gerade ihr erstes Kind bekommen hat, dessen Vater nicht zurückkehren wird? Wie lebt man weiter mit den Bildern des von den Spuren der Mordtat gezeichneten Raums, wie mit dem Wissen, dass der Ehemann oder Vater dort in diesem Raum noch Stunden der Todesangst erleiden musste?
Wie lebt man weiter mit der Erinnerung, dass der Ehemann, nachdem er angeschossen wurde, vor seinen Kollegen unter unbeschreiblichen Qualen verbluten musste?
Wie lebt man weiter, wenn man zwei Postkarten aus München erhält, in denen der inzwischen schon ermordete Sohn noch geschrieben hat, dass alles ganz wunderbar sei und er sich auf das Nachhausekommen freut?
Ich weiß: Das Leid, der Schmerz, das Trauma, sie leben in Ihren Familien fort, bis heute. Nichts mehr ist in Ihrem Leben, wie es vor 1972 war. Nichts mehr ist so, wie es hätte sein können und sein sollen. Fünf Jahrzehnte dauert dieser bohrende Schmerz.
Die Spiele von München, sie sollten ganz anders werden als die letzten Spiele in Deutschland, die von 1936, die die Nazis als bombastische Propagandaschau inszenierten und dabei die olympische Idee scham- und skrupellos zu ihren Zwecken missbrauchten. München 1972 sollte ein Gegenprogramm zu Berlin 1936 sein. Die junge Bundesrepublik wollte sich präsentieren als weltoffene, liberale Gesellschaft, die geachtet war und respektiert im Kreis der Demokratien – und dass sie sich ihrer Verantwortung vor der Geschichte bewusst war und sich zu dieser Geschichte bekannte.
Ja, da war der Ehrgeiz, „heitere Spiele“
zu präsentieren in einem Deutschland, das Pickelhaube und Stechschritt hinter sich gelassen hat. Aber da war eben auch die Verantwortung des Gastgebers für Sportlerinnen und Sportler aus aller Welt, auch und besonders für die aus Israel. Jenem Israel, das vom ersten Tag seiner Existenz an bedroht war, umgeben von Hass und Feindschaft.
In Israel wusste und weiß man, dass der jüdische Staat stark und wehrhaft sein muss. In Deutschland waren die Sportler aus Israel unsere Gäste. Ihre Sicherheit war uns anvertraut. Welch riesiger Vertrauensbeweis war es, nach dem Menschheitsverbrechen der Shoah im Land der Täter an den olympischen Spielen teilzunehmen. Unter den Athleten und ihren Trainern waren auch Überlebende der Shoah.
Zur traurigen und schmerzhaften Wahrheit dieses Gedenkens gehört: Wir wollten gute Gastgeber sein, aber wir sind dem Vertrauen, das die israelischen Athleten und ihre Familien in Deutschland gesetzt haben, nicht gerecht geworden. Sie waren nicht sicher. Sie waren nicht geschützt. Sie wurden in unserem Land von Terroristen gequält und getötet.
Wir in Deutschland waren nicht vorbereitet auf einen solchen Anschlag und hätten es doch sein müssen – auch das gehört zur bitteren Wahrheit. Wir waren nicht vorbereitet darauf, dass dieses Mal ausländische Terroristen die olympische Idee missbrauchen würden, kaltblütig und zu jeder Form von Gewalt bereit. Wir waren nicht vorbereitet auf einen Terroranschlag, bewusst inszeniert vor einem internationalen Fernsehpublikum.
Das Bemühen von 1972, Deutschland als friedfertige, freundliche Demokratie zu zeigen, dieses Bemühen scheiterte in München tragisch. Das Olympische Dorf wurde zur internationalen Bühne für die Attentäter, zur internationalen Bühne für Judenhass und Gewalt.
Und genau das hätte niemals geschehen dürfen.
„Fassungslos stehen wir vor einem wahrhaft ruchlosen Verbrechen“
, sagte der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann, bei den Worten selbst um Fassung ringend. Ja, es war ein wahrhaft ruchloses Verbrechen. Aber das reicht zur Erklärung der Katastrophe von München nicht aus.
Viele sagten später, diese Katastrophe sei „unvorstellbar“
gewesen. Für die, die damals dabei waren, war das womöglich das alles beherrschende Gefühl. Aber: Hätten wir nicht – gerade wir Deutschen – wissen müssen, dass die Idee der Unvorstellbarkeit
ein Denkfehler ist, der furchtbare Folgen haben kann? „Unvorstellbarkeit“
soll vor Nachfragen schützen. Sie lenkt von der eigentlichen Frage ab: Warum konnte das geschehen, was niemals hätte geschehen dürfen?
Wenn wir heute gedenken, dann müssen wir uns aufrichtig und wahrhaftig erinnern. Diese Erinnerung ist schmerzhaft. Sie ist es vor allem für Sie, liebe Angehörige. Aber sie muss es auch für uns in Deutschland sein.
Die Ereignisse in München 1972 haben tiefe, dunkle Spuren hinterlassen im Leben der Angehörigen. Das Trauma von München hat sich eingegraben ins kollektive Gedächtnis der Menschen in Israel. Tiefe, dunkle Spuren hat der Anschlag aber auch bei uns hinterlassen, in der Stadt München, in der Bundesrepublik Deutschland.
Dieses heutige Gedenken kann deshalb nur dann aufrichtig sein, wenn wir zu schmerzhaften Einsichten bereit sind. Wenn wir uns dazu bekennen, dass die Geschichte des Olympia-Attentats auch eine Geschichte von Fehleinschätzungen, von furchtbaren, von tödlichen Fehlern, ja, eines Versagens war. Und dieses Bekenntnis ist überfällig.
Nein, die Täter kamen nicht aus Deutschland. Die Tatverantwortung für diese Morde lag bei den palästinensischen Tätern und ihren libyschen Helfern. Es ist sehr bitter, dass von heutigen politischen Vertretern dieser Länder kein Wort der Anteilnahme, kein Wort des Bedauerns kommt. Sie, die Täter und ihre Helfer, waren es, acht palästinensische Attentäter und deren Drahtzieher, die ihren Hass und den Terror nach München brachten. Sie tragen Verantwortung für die Tat. Aber damit sind wir nicht frei. Auch wir tragen Verantwortung: die Verantwortung des Gastgebers, nicht verhindert zu haben, was wir hätten verhindern müssen; die Verantwortung, das Leben der Geiseln zu schützen, die sich in der Gewalt von Terroristen befanden.
Heute, fünfzig Jahre später, sind noch immer viele, viel zu viele Fragen offen. Die Spiele gingen damals noch am Tag der Trauerfeier weiter: „The games must go on.“
Und auch die Politik tat alles, um so schnell wie möglich zur Tagesordnung überzugehen. Dem Anschlag folgten Jahre und Jahrzehnte des Schweigens, des Verdrängens, Jahre der wachsenden Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Hinterbliebenen. Jahre der Hartherzigkeit. Auch das ist ein Versagen.
Wie konnte das alles geschehen? Dieser Frage müssen wir uns stellen und nach Antworten suchen. Wir müssen diese Antworten endlich finden wollen.
Warum wurden die überlebenden Täter so schnell abgeschoben und nie juristisch belangt? Es ist schwer erträglich, dass sich einer der damaligen Täter noch heute dieses Verbrechens rühmt und vor der Kamera versichert, dass er wieder genauso handeln würde.
Was waren die genauen Verbindungen der Täter zu deutschen Rechtsextremisten und zur RAF? Warum waren die deutschen Sicherheitskräfte derart schlecht ausgerüstet und überfordert? Hat Deutschland Warnungen aus Israel ignoriert – und warum wurde israelische Hilfe bei der Befreiung abgelehnt? Weshalb wurden Akten jahrzehntelang unter Verschluss gehalten oder gar noch ihre Existenz geleugnet? Warum gab es nicht einmal einen Untersuchungsausschuss?
Wir reden über eine große Tragödie und ein dreifaches Versagen. Das erste Versagen betrifft die Vorbereitung der Spiele und das Sicherheitskonzept. Das zweite umfasst die Ereignisse am 5. und 6. September 1972. Das dritte Versagen beginnt am Tag nach dem Attentat: das Schweigen, das Verdrängen, das Vergessen!
Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Bundesregierung nun die Einsetzung einer israelisch-deutschen Historikerkommission vorschlägt. Ich hoffe, dass es der Kommission gelingen wird, mehr Licht in dieses dunkle Kapitel zu bringen. Voraussetzung ist, dass sie möglichst umfassenden Zugang zu Dokumenten erhält und dass sie nach Kräften in ihrer Arbeit unterstützt wird.
Den Experten aus beiden Ländern kommt eine große Verantwortung zu: Ihre Arbeit wird vielleicht schmerzhafte, unbequeme Wahrheiten zutage fördern, auch zutage fördern müssen. Aber wir müssen die Geschichte von München ’72 aufarbeiten – und im Übrigen auch die Geschichte der Nichtaufarbeitung.
Eine wichtige Lehre von München ’72 ist: Wir müssen jede Form von Antisemitismus in unserem Land, von antisemitischem Hass und erst recht von antisemitischer Gewalt entschieden bekämpfen. Das ist und bleibt unsere Verantwortung vor der Geschichte.
Eine weitere wichtige Lehre: Wir müssen als Demokratie wehrhaft sein. Freiheit und Sicherheit sind keine Gegensätze. Sie bedingen sich gegenseitig. Eine freiheitliche Gesellschaft kann sich niemals vollständig schützen vor Terrorangriffen, die auf eines zielen: die Freiheit nämlich. Aber wir müssen wachsam sein gegenüber den Feinden der Demokratie, den inneren wie den äußeren. Denn wir leben in einer Zeit, in der die liberalen Demokratien stärker angefochten werden, von innen wie von außen.
Und noch eine Lehre gibt uns München ’72 auf: Nur wenn wir die Wahrheit wissen, wenn wir uns zu unseren Fehlern und Versäumnissen bekennen, kann die Wunde, die auch unser Rechtsstaat 1972 davongetragen hat, heilen.
Liebe Gäste, es geht natürlich nicht um uns, und erst recht nicht nur um uns. Es geht vor allem um die, die damals ihr Leben verloren haben. Es geht um Sie, die Angehörigen. Sie haben ein Recht darauf, endlich die Wahrheit zu erfahren. Endlich Antworten auf die Fragen zu erhalten, die Sie seit Jahrzehnten quälen. Und dazu gehört auch die Frage, warum Sie mit Ihrem Leid, Ihrem Schmerz so lange alleingelassen wurden.
45 Jahre sollte es dauern, bis ein würdiger Ort der Erinnerung auf dem Olympiagelände eingerichtet wurde. Bei der Eröffnung vor fünf Jahren waren der damalige israelische Präsident Reuven Rivlin und auch einige der Hinterbliebenen dabei. Wir haben gemeinsam getrauert, uns gemeinsam erinnert. Aber es sollten noch einmal fünf Jahre vergehen bis zu einer Einigung über eine angemessene Entschädigung.
Liebe Gäste, liebe Angehörige, lieber Präsident Herzog, wir sind vereint im stillen Andenken an die zwölf Menschen, die damals ihr Leben verloren haben. Wir sind vereint im Schmerz. Aber wir sollten nicht vergessen: Es ist Ihr Schmerz, der Schmerz der Angehörigen. Es ist Ihr Schmerz, den wir viel zu lange nicht ausreichend gewürdigt haben. Und ich weiß auch: Auch die jetzt gefundene Verständigung wird nicht alle Wunden heilen können.
Ich richte die folgenden Worte deshalb ausdrücklich an Sie, deren Leben seit fünfzig Jahren von Verlust, Trauer und Schmerz beherrscht ist: Wir können nicht wiedergutmachen, was geschehen ist, auch nicht, was Sie an Abwehr, Ignoranz und Unrecht erfahren und erlitten haben. Das beschämt mich. Ich bitte Sie als Staatsoberhaupt dieses Landes und im Namen der Bundesrepublik Deutschland um Vergebung für den mangelnden Schutz der israelischen Athleten damals bei den Olympischen Spielen in München und für die mangelnde Aufklärung danach; dafür, dass geschehen konnte, was geschehen ist.
Es ist meine Pflicht und mein Bedürfnis, unsere deutsche Verantwortung zu bekennen – hier und heute und für die Zukunft. Möge der heutige Tag dazu führen, dass Sie, die Angehörigen, sich wahrgenommen fühlen in Ihrem Schmerz, dass Sie spüren, dass es uns ernst ist mit unserer Verantwortung.
Die Freundschaft, die Versöhnung, die Israel uns geschenkt hat, ist nicht weniger als ein Wunder. Möge der heutige Tag auch dazu führen, dass wir Deutsche uns des kostbarsten Guts würdig erweisen, das die Grundlage dieser Freundschaft ist – jenes Guts, das vor fünfzig Jahren an diesem Ort so beschädigt wurde: Vertrauen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
bei der Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag des Attentats auf die israelische Olympiamannschaft am 5. September 2022
in Fürstenfeldbruck
Foto: © Bundespräsidialamt
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