Bald wird wieder Schawuot sein. Die Parscha Bamidbar gilt als Vorbereitung auf Schawuot. Mit Schawuot wurde uns die Tora gegeben. Tora-Literatur ist Zitat-Literatur. Warum ist es im Judentum so wichtig, frühere Generationen zu zitieren? Gibt es auch ein Urheberrecht im Judentum?
Warum ist es für Rabbiner wichtig, andere Rabbiner ausgiebig zu zitieren, sowohl im Hinblick auf die Autorenschaft als auch bei der Bearbeitung von Texten?
G’tt will, dass jeder gratis kopiert
Das Urheberrecht im Judentum hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Wir sind das Volk des Buches. Unsere Entstehungsgeschichte beginnt mit einem Text. Einem Text, der nicht einem Studium entsprungen ist, sondern mitten in der Wüste von G’tt Selbst gegeben wurde. Hier entstand der berühmte Spruch: „So wie die Wüste niemandem gehört, kann sich auch niemand als alleiniger Besitzer der Tora bezeichnen“. Das Bemerkenswerte daran ist, dass der Talmud dieser „Verfassung des Judentums“ feststellt, dass G’tt, der Autor dieses Textes, nichts anderes will, als dass dieser Text von jedem in jeder Generation kopiert und endlos zitiert wird.
Schreiben und bleiben
Das letzte, 613. Gebot der Tora lautet: „Jeder soll für sich selbst eine Tora-Rolle schreiben“, so das Sefer Hachinuch, ein anonymer rabbinischer Text aus dem 13. Jahrhundert. Wenn man eine Tora-Rolle selbst schreiben kann, sollte man das tun. Andernfalls sollte man einen professionellen Sofer (Schreiber) damit beauftragen. Wenn man sie selbst schreiben kann, ist das sehr lobenswert und wird so angesehen, als hätte man die Tora selbst vom Berg Sinai erhalten (B.T. Menachot 30a). Dazu steht geschrieben (Deut./Dewarim 31:19): „Und nun schreibe dir dieses Lied auf und lehre es die Israeliten; lege es ihnen in den Mund, damit dieses Lied ein Zeuge für Mich gegen die Israeliten sei“. Die Bedeutung dieses Verses ist: Schreibe die gesamte Tora auf, in der dieses Lied Ha’asinu (Deut./Dewarim 32) beschrieben wird. Und lehre es jede Generation wieder und wieder, gratis.
Kein finanzielles Urheberrecht
G’tt wollte, so heißt es im Sefer Hachinuch (siehe auch Maimonides, Sefer hamitswot, das Buch der Gebote, Gebot 18) dass jeder eine Tora-Rolle zu Hause hat, um sie täglich zu lesen und daraus zu lernen. Wenn man eine Tora-Rolle zu Hause hat, kommt man automatisch dazu, sie regelmäßig zu studieren, so dass man lernt, G’tt zu fürchten und die Gebote und Verbote gut zu kennen. Obwohl viele Menschen Tora-Rollen von ihren Eltern erben, will G’tt doch, dass jeder in jeder Generation seine eigene Tora neu schreibt, so dass viele Bücher vorhanden sind, die man auch an andere verleihen kann. Außerdem ist ein neuer, frisch geschriebener Text in der Regel schöner als eine antike Tora-Rolle, so dass er angenehmer zu lesen ist.
kein Copyright auf alle jüdischen Quellen
Im Sefer Hachinuch heißt es weiter, dass dies nicht nur für den Tora-Text gilt, sondern auch für alle Erklärungen und Auslegungen der Tora. Unterm Strich propagiert das Judentum, dass wir kein Copyright auf alle jüdischen Quellen kennen, in denen die Tora ausgelegt wird. All diese Texte umfassen so gut wie die gesamte traditionelle Literatur. Und überall gilt hier das bekannte talmudische Sprichwort, das G’tt und Mosche erklärten: „Wie habe ich euch gelehrt? Gratis und für nichts! So sollst du es auch künftigen Generationen ohne Entschädigung und umsonst weitergeben“ (B.T. Nedarim 37a). Kurz gesagt, für praktisch die gesamte klassische jüdische Literatur bedeutet dies
– Es besteht eine uneingeschränkte Kopierpflicht,
– Es gibt keinerlei finanzielles Urheberrecht darauf,
– und dass es eine uneingeschränkte Pflicht zur freien Bildung gibt, die gebietet, diese Texte immer und überall, unbelastet von nationalen Grenzen, selbstlos weiterzugeben und zu praktizieren.
Das geht so weit, dass der Talmud (B.T. Bechorot 29a) ohne mit der Wimper zu zucken feststellt, dass, wenn ein rabbinischer Richter, ein Dayan, eine Vergütung für seine juristischen Dienste verlangt, dies zu einem ungültigen Urteil führt. Ein kompliziertes Gerichtsurteil wird an Ort und Stelle wertlos, wenn die Beteiligten eine Vergütung dafür verlangen.
Die Praxis ist jedoch noch komplizierter
Aber das Judentum wäre nicht das Judentum, wenn es so einfach wäre. Sicherlich sah und sieht die Praxis anders aus. Die erste Frage ist, warum es für Rabbiner wichtig ist, andere Rabbiner ausführlich zu zitieren. Rabbinische Literatur ist Zitierliteratur, war ein gängiges Sprichwort, als ich als Rabbiner begann. Die Bedeutung dieser Aussage sollte nicht unterschätzt werden. Es hat mit der Bedeutung der jüdischen Tradition zu tun. Die jüdischen Überlieferungen sind so mächtig, weil sie letztlich auf dem reinen Wort G’ttes beruhen. Selbst die Auslegung der Tora wurde Mosche auf dem Berg Sinai gegeben und schließlich etwa 200 in der Mischna, der Mündlichen Lehre, und etwa 500 im Talmud, dem Kommentar zur Mündlichen Lehre, niedergeschrieben. Alles kommt von Oben, unverfälscht und authentisch.
Jeder menschliche Beitrag ist tabu
Wer es wagt, seine eigenen Interpretationen als maßgebend zu betrachten, begeht einen schwerwiegenden Verstoß gegen die jüdische Tradition. Sobald ein Rabbiner oder Gelehrter seine eigenen Gedanken, wie genial auch immer, auf die reine Tradition projiziert, korrumpiert er die ursprüngliche Überlieferung. Deshalb können Rabbiner die Texte in modernen und ansprechenden Begriffen erklären und rezitieren. Aber selbst etwas an der ursprünglichen Bedeutung der traditionellen Worte zu ändern, wäre eine Todsünde.
Alles G’ttliche muss rein bleiben
Das ist der Grund, warum die jüdische Tradition so rein geblieben ist. Und so muss es auch bleiben. Jede moderne rabbinische Erklärung beginnt mit einem Vers aus der Tora selbst oder einem Zitat aus dem Talmud. Alles, was wir erschaffen, muss sich darauf stützen. Andernfalls verliert jede rabbinische Erklärung ihren Wert und kann sogar zur „Apikorsut“ oder Ketzerei werden. Die rabbinische Welt ist in dieser Hinsicht sehr streng. Das klingt ein bisschen extrem, aber das ist die rabbinische Realität.
Der Streit um das Urheberrecht
Diese lange Einleitung ist notwendig, um einige grundlegende Prinzipien des Judentums zu verstehen. Es gibt eine Meinungsverschiedenheit darüber, ob es im Judentum ein Urheberrecht gibt. Trotzdem vertreten einige traditionelle Gelehrte die Auffassung, dass jeder Mensch ein unbegrenztes Urheberrecht auf alle seine geistigen Produkte hat. Der renommierte „Scho’ejl uMeischiv“, Rabbiner Josef Nathansohn (1808-1875), stellt unmissverständlich fest, dass jeder Schriftsteller ein Urheberrecht „für immer“ hat (Responsa „Scho’ejl uMeischiv“ I:44). Er vergleicht dies mit jeder anderen Erfindung oder jedem anderen Produkt, an dem der ursprüngliche Schöpfer die vollen Rechte hat. Er argumentiert damit, dass dies unter allen Völkern als Recht anerkannt ist und dass unsere Tora nicht anders darüber denkt.
Rabbi Schmelkes sieht dies differenzierter
Der „Beit Jitzchak“, Rabbi Jitzchak Schmelkes (1827-1905), ist jedoch anderer Meinung und argumentiert, dass es „so etwas wie intellektuelles Eigentum nicht gibt“, weil intellektuelle Produkte keine greifbaren, konkreten Gegenstände sind und keine Eigentumsrechte an ihnen geltend gemacht werden können. Die letztgenannte Autorität erkennt zwar an, dass man Eigentümer seiner physischen Schriften ist, nicht aber des geistigen Inhalts seiner Werke. Sobald ein „origineller Gedanke“ veröffentlicht und alltäglich geworden ist, wird er vom ursprünglichen Schöpfer für alle freigegeben, sobald er seine Bücher verkauft hat. Allerdings gibt es hier eine klare Einschränkung. Wenn der Autor deutlich erklärt, dass er seine Urheberrechte nicht freigibt, behält er diese Rechte für sich und es gilt ein ziemlich festes Urheberrecht (Beit Jitzchak, Jore Dea 75). Aber es gibt noch viele andere Details.
Ist dieses Urheberrecht auch ein echtes finanzielles Recht?
Rabbi Schimon Sofer (1820-1883) führt dies näher aus und erklärt, dass dieses Urheberrecht zwar existiert, aber nicht viel mehr als „tovat hana’a“ ist, eine Art „Goodwill“-Recht, das zum Beispiel nicht an die Kinder vererbt werden kann (Responsa Hitorrerut Teschuwa 232). Dennoch räumt auch er ein, dass dieses Urheberrecht, wenn es von der Regierung als solches anerkannt wird, vom jüdischen Recht wiederum voll als finanzielles Recht anerkannt wird. So viel zum geistigen Eigentum an Schriften nicht-religiöser Natur.
Schriften religiöser Natur
Der „Chatam Sofer“, Rabbi Mosche Sofer (1762-1839), stellt jedoch klar, dass für Aussagen über die Tora oder die Halacha (jüdisches Gesetz) keine Urheberrechte gelten, weil man „dafür keine Belohnung verlangen und in dieser Welt keinen Genuss daraus ziehen darf“ (Responsa Chatam Sofer, Choschen Mischpat 79). Auch der ‚Beit Yitzchak‘ (Responsa Choschen Mischpat 80) teilt diese Meinung, dass im Falle von ‚Worten der Tora‘ keine finanziellen Rechte auf geistiges Eigentum geltend gemacht werden können, aufgrund der Regel ‚G’t und Mosche haben dies umsonst getan. Das sollst du auch“.
Das Recht des Landes gilt für alle
Dennoch wurden im Laufe der Generationen und insbesondere ab dem 16. Jahrhundert von den Rabbinern alle möglichen Maßnahmen ergriffen, um die Rechte von Verlegern und Autoren so weit wie möglich zu schützen. Auf jeden Fall gilt heute das nichtjüdische Urheberrecht als „Leitlinie“ auch für jüdische Bürger. Dies beruht auf der Regel „Dina Demalchuta Dina“, das weltliche Recht gilt natürlich auch für jüdische Bürger.
© Oberrabbiner Raphael Evers
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