Schoftim

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EGLA ARUFA: ÖFFENTLICHE VERANTWORTUNG, INTERNATIONALE GLEICHGÜLTIGKEIT UND DER SCHOCKEFFEKT

„Und sie werden die Stimme erheben und sagen: unsere Hände haben dieses Blut nicht verschüttet und unsere Augen haben nicht gesehen. Schenke Deinem Volk Israel Versöhnung…“ (Dewarim/Deut. 21:7-8)

 

Verantwortung für Mord

Wenn irgendwo auf dem Feld ein Toter/eine Tote vorgefunden wird und die Todesursache ist unbekannt, wird sofort der Zentrale Sanhedrin – das Höchste Gericht zu Jerusalem – informiert. Fünf Mitglieder dieses Kollegiums kommen dann zum Ort des Unheils und messen den Abstand ab der Leiche bis zur am nahesten befindlichen Gemeinde. Dieser wird die Schuld an dieser Tragödie symbolisch in die Schuhe geschoben. Befand sich eine größere Stadt in der Nachbarschaft – obwohl nicht am nahesten – dann wurde diese in die Verantwortung genommen und nicht die kleinere Stadt, die sich am nahesten befindet, da die Möglichkeit, dass das „Unglück“ aus der größeren Stadt stammen könnte, größer war.

Das höchste Gericht dieser größeren Stadt hatte den Toten/die Tote zu beerdigen und ein Kalb von unter zwei Jahre in ein nicht bearbeitetes Tal zu bringen. Das Kalb durfte noch nie ein Joch getragen haben. Das Tier erhielt dann einen Genickschlag und die Älteren wuschen danach ihre Hände in Unschuld unter dem Aussprechen des oben zitierten Satzes: „Unsere Hände haben dieses Blut nicht verschüttet und unsere Augen haben nicht gesehen…“.

 

Alles getan um Tragödien zuvor zu kommen

Das Tal durfte nach diesem Vorgang nie mehr bearbeitet oder mit Saat versehen werden, da die Rabbiner besagten: „Lasse ein Kalb getötet werden, das noch keine Früchte an einem Ort erbracht hat, der noch nie Früchte hervor gebracht hat, um für den Tod dieses Mannes Sühne zu machen, der nicht die Gelegenheit bekommen hat(te), sich fort zu pflanzen“.

Raschi (1040-1105) fragt sich ab, ob es überhaupt einen vernünftigen Menschen geben könnte, der meinen würde, dass der Tod die Schuld der Mitglieder des Sanhedrin hätte sein können, so dass diese sich hätten „entschuldigen und ihre Hände in Unschuld hätten waschen müssen“.

Natürlich nicht! Die Gelehrten des Sanhedrin wollten nur damit sagen, dass sie alles Mögliche getan hätten, um ähnlichen Tragödien zuvor zu kommen. „Wir haben diesen Fremdling nicht verwahrlost, indem wir ihn ohne Nahrung die Stadt haben verlassen lassen und ihn unbeschützt weg ziehen zu lassen“. Welch eine moralische Lehre! Die Stadtverwaltung ist dazu verpflichtet, auch für das Wohl von Fremdlingen während der Fortsetzung ihrer Reise Sorge zu tragen! (Vergleichen Sie das mit dem, wie wir heute mit Flüchtlingen umgehen!)

 

Öffentliche Verantwortung

Mit einer besseren Begleitung unterwegs hätte dem Mord oder dem Tod vorgebeugt werden können. Aber wie hätte das Mitgeben von Proviant für unterwegs den Tod vorbeugen können?

Wenn wir Menschen ohne Möglichkeiten einer Existenz einfach verkommen lassen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie anfangen, zu stehlen und andere an zu greifen, um an ihr tägliches Brot zu gelangen. Deshalb erklärten die Mitglieder des Sanhedrins, dass sie das Opfer der Gewalt nicht ohne Essen oder Trinken hätten von dannen ziehen lassen.

 

noch immer läuft irgendwo ein unbestrafter Täter herum

Jedoch läuft irgendwo noch ein unbestrafter Täter herum, für den die Kohanim (Priester) um Vergebung bitten müssten: „Schenke Sühne oder Vergebung Deinem Volk Israel“. Und das betraf im Grunde genommen das gesamte Volk, da eine perfekte Gesellschaft keinen Mörder hervorgebracht hatte. Deshalb, besagt Rabbi Awraham ibn Esra (1092-1167), ist dieses eine Angelegenheit, die jeden betrifft: „Schenke Vergebung Deinem Volke Israel“.

 

die geistige Ebene sollte an der Spitze der Prioritätenliste stehen

Der Awi Eser (19.Jahrhundert, Posen), geht hierauf ein. Es ist die Aufgabe der Anführer einer Gemeinschaft, darauf zu achten, dass die moralischen Standpunkte gehandhabt bleiben. Nicht nur das finanzielle Wohlergehen, sondern gerade die geistige Ebene sollte an der Spitze der Prioritätenliste stehen. Laut Rabbi Mosche Alschich (16. Jahrhundert, Sfad) befindet sich auch darin die Bedeutung der Messprozedur zur nächstliegenden Stadt. Diese diente dazu, um auf zu zeigen, woran es den Verantwortlichen aller Wahrscheinlichkeit nach gefehlt hatte.

 

Drei andere Annäherungen

Maimonides (12. Jahrhundert), Nachmanides (13. Jahrhundert) und Rabbi Jitzchak Abarbanel (15. Jahrhundert) näherten sich dem Thema/Themen auf eine ganz andere und individuelle Weise an.

 

Die Beschleunigung der Aufklärung

Laut Maimonides sind die Ermittlung des Abstandes, die Erklärung der Unschuld und das Brechen des Genickes des Kalbes alles Vorgänge, die bestimmt waren, in der Stadt eine Sphäre von Krisis zu schaffen, sodass der Ursprung des Täters vereinfacht wurde. Da die Halacha – das Jüdische Gesetz – vorschreibt, dass das Land (das Feld), wo die Leiche gefunden wurde, nicht gepflügt werden darf, solange der Täter nicht gefunden wird, würde das für den Landeigentümer eine Stimulanz ergeben, um die Intensität des Suchvorganges kräftig zu steigern. Dieses ergibt eine sehr rationelle Erklärung der Bestimmungen der Egla Arufa, die dann auch durch Nachmanides prompt verworfen wird.

 

Nachmanides: unerklärbar

Dieser letztere Gelehrte sieht in den vorgegebenen Vorgängen keine Ermittlungsmethode und besagt, dass die Vorschriften G“ttes letztendlich unerklärbar seien. Dieses ist auch logisch. Der G“ttliche Intellekt kann durch den menschlichen Intellekt nie selbst auch nur angenähert werden. Die Wege G“ttes bleiben unergründbar, wie logisch sie auch anklingen würden.

 

Die Sichtweise von Rabbi Jitzchak Abarbanel

Rabbi Jitzchak Abarbanel schlägt einen ganz anderen Weg ein. Die Symbolik des gebrochenen Genickes des Kalbes ist der Mangel an Mut und Aufrichtigkeit. Alles erfolgte hinter dem Rücken des Gewaltopfers. Derjenige, der dem Kalb den Nacken bricht, geht keine direkte Konfrontation mit dem Tier ein. Dieses war auch der Hintergrund des Verbrechens. Das Gewaltopfer hat keinen ehrlichen Prozess erhalten, sodass es – gerade ins Gesicht – deutlich mit Beweisen konfrontiert werden konnte, die seine Strafe hätten rechtfertigen können. Es wurde heimlich getötet – im wahren Sinne hinterrücks.

 

Komplette Gefühlskälte für die grausamsten Dinge

Der Vorgang war dazu gedacht, das öffentliche Gewissen wach zu rütteln und die allgemeine Verantwortung zu mobilisieren. Glücklicherweise erfolgt das ab und zu auch in Europa. Bei Exzessen sinnloser Gewalt geht das Volk in einen Schweigemarsch auf die Straße, des Gedenkens oder in einer leidenschaftlichen Demonstration. Dieses ist notwendig und erforderlich, da wir sonst apathisch werden für Mord und Totschlag. Eigentlich überkommt es uns fast täglich.

Unsere Medien sind von der internationalen Gewalt und der entsprechenden Berichterstattung überhäuft, bei denen wir kaum noch die Schultern zucken, geschweige, dass wir auch nur dabei innehalten. Moralisch werden wir abgestumpft. Wir werden nicht mehr auch nur böse oder entsetzt. Wir werden komplett für die grausamsten Dinge, die sich um uns herum ereignen, gefühllos.

EIN Toter ist traurig oder/und bedauerlich, aber Tausend Tote übersteigen das menschliche Vorstellungsvermögen, führen nicht mehr zum allgemeinen Entsetzen und verkommen zu Statistik. Es spricht nicht mehr die Gefühle an. Das Nackenbrechen eines Kalbes beflügelt wieder die Empfindungen und Empfindlichkeit. Sonst löscht sich das Licht…

 

Öffentliche Entschuldigung: eine gute Kultur

Die Egla Arufa – der Vorgang des Brechens des Kalbnackens mit der Entschuldigungskultur der vorher erwähnten Personen aus der Gemeinde erzeugen einen Schockeffekt. Wir halten kurz bei dieser Tragödie inne und werden sensibilisiert: der Wert des menschlichen Lebens wurde wieder aktiviert.

Das Publikum/die Öffentlichkeit wird symbolisch aufgerufen, um von seinem/ihrem Entsetzen Farbe zu bekennen. Das Interesse für die öffentliche Moral wird wieder mal eingefordert. Ein wichtiger Gedanke, nicht nur im alten Israel, sondern auch im (politischen und zwischenmenschlichen) Klima in Europa Anno 5781/5782.

 

Author: © Oberrabbiner Raphael Evers | Raawi Jüdisches Magazin