Ansprache von Rabbiner Gabor Lengyel zum Thema Ukraine

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 Meine lieben Freundinnen und Freunde, 

der heutige Wochenabschnitt ist der letzte im zweiten Buch Moses, Schemot/Exodus namens Pikude. Dass Wort wird, unterschiedlich übersetzt: Berechnungen oder Berichte. Es geht um den so genannten Stiftszelt, womit sich die Tora seit einigen Wochen beschäftigt. Der Stiftszelt war eine Art Heiligtum. Man verwendete gleichzeitig zwei Begriffe dafür: Ohel, also Zelt und Mischkan: Wohnung. 

Meine lieben Freundinnen und Freunde, Bomben fallen in fast allen Städten in der Ukraine, unschuldige Männer, Frauen und Kinder sterben oder flüchten aus dem Land. Ihr werdet mit Sicherheit von eurem Senior Rabbiner erwarten, dass er nicht über den Wochenabschnitt spricht. 

Ich möchte mit euch einige Gedanken zum aktuellen barbarischen Überfall auf die Ukraine durch Wladimir Putin mit seinen Beratern und seiner gehorchenden Armee teilen. Wie bei allen Ansprachen von mir, müsst ihr mit meinen Gedanken nicht übereinstimmen. 

Die Bilder, die Berichte aus den verschiedensten Ecken von der Ukraine machen uns traurig, sprachlos, wütend… Ich versuche, einige Gedanken euch aus der jüdisch – israelischen Welt zu vermitteln. 

Roman Shmulenson, heute 44 Jahre alt, stammt aus einer ukrainisch-jüdischen Familie, ging 1993 in die USA. Er ist der Leiter der Jüdischen Emigrationsgesellschaften in den USA und sagte am 29. Februar in einem Gespräch folgendes, Zitat: 

„Wir waren Juden in der Ukraine und in Russland. Wir haben uns mit den Russen, mit den Ukrainern nicht identifiziert! Die ukrainische Flagge bleibt bei mir das Symbol des ukrainischen Nationalismus, das ukrainische Vaterland hat uns aus unseren Geburtsstätten vertrieben, deshalb haben wir das Land verlassen! Ich werde die ukrainische Flagge nie in meinem Leben zeigen, wenn schon eine Flagge, dann die Flagge der USA, welche uns aufgenommen hat und von Israel, das Land unserer seelischen Heimat.“ 

Wow! Ich muss tief atmen! Wer bin ich, dass ich diese Sätze kommentiere. 

Dagegen sprach in meinem geliebten Hartman Institut in Jerusalem der Rektor des Instituts, Rabbiner Dr. Donniel Hartman über die schreckliche Invasion der russischen Armee in die Ukraine in anderen Tönen, welche uns auch nachdenklich machen könnte. 

Er sagte, Zitat: „Einerseits bin ich glücklich, dass Tausende Israelis auf den Straßen von Israel demonstrieren und ihre Solidarität mit dem leidenden ukrainischen Volk zeigen. Andererseits höre ich die unterschiedlichen Töne und offiziellen Erklärungen meiner israelischen Regierung. Es macht mich traurig, dass Israel eine Resolution der Vereinigten Nationen, die wahrscheinlich die russische Invasion verurteilen wird, nicht zustimmen wird. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Russland, der über Syrien herrscht, macht ein Auge zu, wenn Israel militärische Anlagen in Syrien bombardiert.“ Zitat Ende. 

Ein Kalkül, was jeder einzelne von uns unterschiedlich bewerten kann. 

Rabbi Donniel Hartman hat persönlich eindeutig Position bezogen, er sagte, Zitat weiter: „Israel muss aufstehen und klare Solidarität mit dem ukrainischen Volk zeigen. Moral muss höher stehen als aktuelle politische oder wirtschaftliche Überlegungen gegenüber Russland“. 

Es ist ebenfalls sehr bemerkenswert, was der Refusnik – ich hoffe, ihr kennt diesen Begriff – Natan Sharansky, geboren in Donezk, der neun Jahre in einem sibirischen Straflager Gulag saß, und eines Tages über die berühmte Glienicker Brücke in Berlin ausgetauscht wurde, sagte in diesen Tagen über die „Zurückhaltungspolitik“ der israelischen Regierung folgendes, Zitat: „Israel ist so, wie früher die Hofjuden in Europa. Israel ist der Hofjude von Vladimir Putin“. Zitat Ende. 

Auch hier muss ich tief atmen, jeder von euch kann diese Aussage selbst kommentieren oder bewerten. 

Im Gespräch mit Rabbi Dr. Donniel Hartman tauchte eine ebenfalls sehr spannende Frage auf: soll die Sochnut, die israelische Einwanderungsbehörde die Juden im Alter zwischen 18 und 60 aus der Ukraine holen oder nicht? 

Donniel Hartman, ein glühender Zionist, ist mit seinem Vater (der Gründer des Instituts) und mit der Familie 1970 aus New York nach Israel eingewandert, bezog hier auch eine klare, unmissverständliche Position, Zitat: „Das ist nicht die Zeit, diese Juden aus der Ukraine zu holen! Die Juden, die nach Israel wollten, hätten das seit vielen Jahren tun können. Sie fühlten sich überwiegend Ukrainer, auch aus diesem Grund sind ihre Plätze jetzt in der Ukraine! 

Juden sollen dort bleiben, aufstehen und für die Ukraine kämpfen! Gerade jetzt, wo ein assimilierter Jude, Präsident Selenskyj, wie Ester in der Purimgeschichte, seine Rolle erkannt hat und ein Held für die Ukraine und für die ganze demokratisch denkende Welt wurde! Der Jude Selenskyj opfert sein Leben für die Ukraine!“ Soweit Rabbi Donniel Hartman. 

Meine lieben Freunde und Freundinnen, mir fällt zum Präsidenten Selenskyj ein anderer Held – während der Schoa – ein: Janos Korczak. 

Władysław Szpilman, der berühmte Komponist und Pianist berichtete, Zitat: 

„Eines Tages, wurde ich zufällig Zeuge des Abmarsches von Janusz Korczak und seinen Waisen aus dem Ghetto. Für jenen Morgen war die ‚Evakuierung‘ des jüdischen Waisenhauses, dessen Leiter Janusz Korczak war, befohlen worden; er selbst hatte die Möglichkeit, sich zu retten, und nur mit Mühe brachte er die Deutschen dazu, dass sie ihm erlaubten, die Kinder zu begleiten. 

Lange Jahre seines Lebens hatte er mit Kindern verbracht und auch jetzt, auf dem letzten Weg, wollte er sie nicht allein lassen. Er wollte es ihnen leichter machen. Sie würden aufs Land fahren, ein Grund zur Freude, erklärte er den Waisenkindern.

Er ordnete an, sich festtäglich zu kleiden und so hübsch herausgeputzt, in fröhlicher Stimmung, traten sie paarweise auf dem Hof an. Die kleine Kolonne führte ein SS-Mann an, der als Deutscher, Kinder liebte, selbst solche, die er in Kürze ins Jenseits befördern würde. Die Kinder, strahlend sangen im Chor; Korczak trug zwei der Kleinsten, die ebenfalls lächelten, auf dem Arm und erzählte ihnen etwas Lustiges. 

Bestimmt hat der ‚Alte Doktor‘ noch in der Gaskammer, als das Zyklon schon die kindlichen Kehlen würgte und in den Herzen der Waisen Angst an die Stelle von Freude und Hoffnung trat, mit letzter Anstrengung geflüstert: ‚Nichts, das ist nichts, Kinder‘ um wenigstens seinen kleinen Zöglingen den Schrecken des Übergangs vom Leben in den Tod zu ersparen.“ Soweit Szpilman. 

Meine lieben Freundinnen und Freunde, 

meine Frau Anikó und ich machen keine Unterschiede, ob ein Flüchtling Muslim, Christ oder Jude ist. Ob ein Flüchtling dunkle oder weiße Hautfarbe hat. Wir beide mit Migrationsvordergrund, helfen, wo wir können. Das tun wir für die Flüchtlinge aus Syrien, die angeblich alle Bombenleger und Terroristen sind und das tun wir jetzt auch für Flüchtlinge aus der Ukraine, die angeblich alle Faschisten und Nazis sind. Wir haben bereits Margarita angekündigt, dass wir zwei bis drei Personen vorübergehend aufnehmen können. 

Meine lieben Freundinnen und Freunde, 

Ich mache mir Gedanken auch über das hoffentlich baldige Ende des Leidens des ukrainischen Volkes. Wie sollen sich unsere Brüder und Schwester aus Russland verhalten? Die Täter, aber auch die friedliche Mehrheit der unschuldigen russischen Freundinnen und Freunde wählen den menschlich verständlichen Weg, nämlich das Schweigen. Das taten die Deutschen, die vor 80-90 Jahren Schuld auf sich geladen haben, aber auch diejenigen die unschuldig waren. Bis heute erleben wir, dass man über die Gräueltaten nicht sprechen möchte. 

Aber das russische Volk, die Menschen werden daran von den Unterdrückten erinnert. Bis heute leiden die unschuldigen Söhne, Töchter, Enkel, Enkelinnen des sogenannten „Deutschen Tätervolkes“ wegen der Schoa. In vielen Ländern wie in Holland, Polen, Israel, Italien, Frankreich, USA werden Deutsche missachtet, die Erinnerung lebt. 

Leider werden unsere Brüder und Schwester aus Russland, die meistens unschuldig sind, auch Jahrzehnte noch leiden müssen. Das ukrainische Volk, genauso wie wir Juden, kann nicht so schnell vergessen. Ich möchte aber, genauso, wie ich als Schoaopfer den deutschen Freunden meine Hand reiche, dass wir auch unseren vielen Freundinnen und Freunden aus Russland unsere Hand reichen, um bei der Bewältigung des Schams, Reue und Umkehr, die Teschuwa eine kleine Hilfe zu leisten. 

Der Schabbat der nächsten Woche, vor Purim, heißt Schabbat Zachor, Schabbat der Erinnerung. Passt leider hervorragend zu den Gesagten heute. 

Zum Schluss möchte ich gerne zu unserem Wochenabschnitt Pikude zurückkehren. Der Stiftszelt ist ein Symbol der Einheit im Judentum. 

Zwar besteht der Stiftszelt aus mehreren Teilen, dennoch heißt es in der Tora: „So wird die Wohnung ein einziges Ganzes.“ 

Das gleiche gilt zu den Geboten der Tora und für unsere Gemeinde. Jede und jeder Einzelne von uns ist ein Glied in der jüdischen Gemeinschaft mit unterschiedlicher Herkunft, Kultur, worüber wir offen miteinander diskutieren und streiten mögen. Wenn wir aber die Tora und unsere Gemeinde als Ganzes betrachten, dann sind wir eins. 

Schabbat Schalom 

 

Quelle: Reformsynagoge Hamburg / Ansprache von Rabbiner Gabor Lengyel am 4. März 2022 aus besonderem Anlass zum Thema Ukraine 

Foto: © Rabbiner Gabor Lengyel / Privat