Die sieben Punkte des Jüdischen Algorithmus

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Ein Vortrag von Rabbi Lord Jonathan Sacks Sel.A. (Teil eines Vortrages, den Rabbi Sacks am 28.Dezember 2017 beim Olami Gipfel in London hielt, vor ca. 1.400 Studenten aus aller Welt)

„Ich möchte Ihnen etwas von Shakespeare zitieren, dass mein Leben verändert hat. Es stammt aus „Was ihr wollt“ und trifft genau das, was es bedeutet Jude zu sein.

Er sagt: „Einige werden zu Größe geboren, Einige erreichen Größe, aber Einigen wird Größe auferlegt.“
Ziemlich früh in meinem Leben wurde mir klar: ich war nicht zu Größe geboren und ich würde keine Größe erreichen. Aber zu einem bestimmten Zeitpunkt in meinem Leben an der Universität verstand ich plötzlich: wenn man Jude ist, ist einem Größe auferlegt.

Wie das?
Wir sind die Erben der Nachfahren des einflussreichsten Mannes, der je gelebt hat: Awraham Awinu. 2,4 Milliarden Christen, 1,6 Milliarden Moslems und einige andere, von denen die meisten heute Abend hier anwesend sind (Gelächter im Publikum), beanspruchen ihn als ihren Vorfahren im Glauben. Hier ist ein Mann, der keine Krone trug, kein Weltreich regierte, keine Armee kommandierte, keine Wunder vollbrachte und keine Prophezeiungen äußerte. Aber er veränderte die Welt durch seine tiefgläubige Bereitschaft, G-ttes Willen zu folgen.
Wir sind die Nachfahren von Mosche Rabbeinu. Jean-Jacques Rousseau, der die Französische Revolution maßgeblich beeinflusste, nannte ihn den größten Gesetzgeber in der Geschichte der Menschheit. – Wir sind die Nachfahren von David haMelech, nicht nur Israels größter König, sondern auch der größte religiöse Poet der Geschichte. Wir sind die Erben der Propheten, der Welt ersten Sozialkritiker, der ersten Menschen, die der Macht die Wahrheit ins Gesicht sagten. Ich will Ihnen etwas sagen: Juden haben nicht nur einmal wichtige Neuerungen geschaffen, sie tun das Generation für Generation. Und wenngleich einige dieser Persönlichkeiten nicht besonders religiös waren, so hielten sie doch alle an der grundlegenden jüdischen Idee fest, dass die Welt nicht durch die Idee der Macht verändert wird, sondern durch die Macht von Ideen.

 

“Die Welt nicht durch die Idee der Macht verändert wird, sondern durch die Macht von Ideen.“

 

Und das ist Judentum: wir sind das Volk, dessen Helden Lehrer, deren Festungen Lehrhäuser sind und deren Leidenschaft das Lernen und das Geistesleben ist. Und jetzt das Problem und deshalb kommt es auf jeden Einzelnen von uns an: Heute gibt es – ki ajin hara – 13 Millionen plus… Juden, eine Handvoll nur, das ist nicht das Problem. Das Problem besteht darin, dass weltweit zwischen einem von zwei und zwei von drei jungen Juden sich vom Judentum wegbewegen. Und das schmerzt!

Ich werde Ihnen sagen, warum das schmerzt: Es gibt uns Juden schon sehr lange. Wir existieren zweimal so lange wie das Christentum, dreimal so lange wie der Islam, wir leben schon länger als beinahe jede andere Nation der Welt. Wir wurden in alle Länder der Erde zerstreut, wir haben jedes Schicksal gekannt von Höhen des Triumphes zu Abgründen von Tragödien. Und dennoch: Niemals vorher in der jüdischen Geschichte hatten wir gleichzeitig das, was wir heute haben: Selbstbestimmung und Unabhängigkeit im Staate Israel und Freiheit und Gleichheit in der Diaspora. Zeitweise mögen wir eines davon gehabt haben, aber niemals zuvor beides!

Und das heute, wo jedes einzelne Gebet beantwortet wurde, das Ihre Bubbis und Saidis, Ihre Großeltern und deren Großeltern, hundert Generationen vor Ihnen je gesprochen haben! Und was machen wir? Wir gehen weg von Jiddischkeit! Das ist schlimm. Das schmerzt. – Und darum habe ich als Student gesagt: da mache ich nicht mit. Ich werde jüdischer sein, mich nicht abwenden. Ich hatte nicht die Absicht, Rabbiner zu werden, gar nicht. Aber ich fasste einen Entschluss: Ich werde nicht einer von denen sein, die den Rücken kehren. Und wenn Sie heute den gleichen Entschluss fassen, jüdischer zu sein, dann können Sie gemeinsam den Lauf der jüdischen Geschichte ändern. Und Sie wissen und ich weiß, dass es nicht leicht ist Jude zu sein. Es gibt all diese Gesetze, all das Lernen, all diese Einschränkungen.

 

“Dass es nicht leicht ist Juden zu sein“

 

Heutzutage ist alles ein Algorithmus. – Vor langer Zeit, in einer einsamen Wüste am Fuß eines Berges im Sinai stand ein Volk, klein, aufsässig, widerspenstig, durch nichts Besonderes
ausgezeichnet. Diesem Volk vertraute Gott einen Algorithmus an, der Tora genannt wird. Und dieser Algorithmus verwandelte es in das bemerkenswerteste und beharrlichste Volk der Welt, das dem Schicksal wieder und wieder trotzte. Wie das kommt, weiß ich nicht, aber das es geht, weiß ich!

Sie sind dabei Ihre Zukunft anzugehen. Jeder von Ihnen hat Träume und Pläne und Sie gehen auf eine Zukunft zu, in der nichts mehr vorhersagbar ist. Die Welt verändert sich schneller als je zuvor und dieser Wandel wird jedes Jahr schneller. Sie werden bestimmte Stärken brauchen, um damit umgehen zu können, um sich zu entwickeln und erfolgreich zu sein.
Lassen Sie mich Ihnen aus eigener Erfahrung erzählen, was dieser Algorithmus der Torah für Ihr Leben bedeuten wird.

 

“Dieser Algorithmus der Torah für Ihr Leben bedeuten wird“

 

Erstens: Er wird all Ihre wichtigen menschlichen Beziehungen stärken. Sie können nicht ganz allein erfolgreich und glücklich durchs Leben gehen. Alle Studien zeigen, dass Erfolg und Glück von der Stärke und Qualität dieser Beziehungen abhängen. Das ist das Erste, was das Judentum für Sie tun wird.

Zweitens: Jeder Erfolg hängt davon ab, wie sehr man sich Disziplin und den Einsatz seiner Willenskraft zu eigen gemacht hat. Die Halacha, das jüdische Gesetz, ist das weltgrößte, fortwährende Seminar für Disziplin und Willenskraft.

Drittens: Wenn Sie ein Burnout mitten in Ihrer Karriere vermeiden wollen, sollten Sie Schabbat entdecken und halten – er ist das weltgrößte Seminar zur Work-Life-Balance. Das ist die Kraft von Schabbat heutzutage. Zu Moses‘ Zeiten war es Freiheit von Pharaos Sklaverei, heute ist es Freiheit von der Tyrannei der sozialen Medien und der E-Mails.

Viertens: Glück hängt mit Dankbarkeit in Würde zusammen. Und wenn Sie ein jüdisches Leben führen – was sind Ihre ersten Worte am Morgen? Modeh ani! Wir danken, bevor wir überhaupt denken. Wenn Sie Ihr Leben in dieser Weise leben, werden Sie immer zufrieden sein.

Fünftens: Das Judentum wird Ihren Geist ein Leben lang aktiv halten. Denn Jude zu sein heißt lebenslang zu lernen. – Vor zwanzig Jahren wurde ich in lebensgefährlichem Zustand überstürzt in ein Krankenhaus gebracht, gleich von der Arztpraxis, wurde operiert, mein Leben war gerettet. Ich begann gerade aus der Narkose zu erwachen, als es an meine Tür klopfte. Ein achtzigjähriger Jude mit einem Band Gemara unterm Arm! Und er sagt: “Oh, ich habe gehört, dass Sie hier sind, Rabbi Sacks. Ich dachte, wir könnten zusammen Gemara lernen?!“ Ich bin soeben dem Tode entronnen und er will Gemara lernen! (Rabbi Sacks lacht bei der Erinnerung an diese Situation) – Ich verspreche Ihnen, so werden Sie Ihr ganzes Leben lang lernen und wachsen.

Sechstens: Was auch immer Sie mit Ihrem Leben anfangen, Sie brauchen einen inneren Moralkodex. Sie brauchen die innere Stimme, die „Nein“ sagt – und das lernen Sie im Judentum.

Und siebtens: Sie brauchen ein Gefühl von Identität um glücklich, erfolgreich und widerstandsfähig zu sein. Sie müssen wissen, wer Sie sind, zu welcher Geschichte Sie gehören. Wir sind nicht freischwebende Atome im Raum, von jedem Wind umher geweht. Jude zu sein bedeutet, Teil der großartigsten Geschichte der Erde zu sein.

 

“Jude zu sein bedeutet, Teil der großartigsten Geschichte der Erde zu sein“

 

Diese sieben Dinge werden Ihr Leben nicht nur ein wenig verändern, sie werden es gänzlich umkrempeln. Sie gehören alle zu diesem außergewöhnlichen Algorithmus, der die Juden zum widerstandsfähigsten und kreativsten Volk gemacht hat, das die Welt je kannte. Ein Volk, das auch die meisten Veränderungen in die Welt gebracht hat.– Ja, wir mögen nicht in Größe geboren sein, wir mögen keine Größe erreichen, aber als Juden ist uns Größe auferlegt. Und ja, es ist hart, Jude zu sein. Man muss sich um Hingabe und Willen bemühen. Aber diese Mühe macht Sie stark, diese Mühe verleiht Ihnen Stolz und durch diese Mühe fühlen Sie sich lebendiger denn je. Ich habe diese Entscheidung in Ihrem Alter getroffen, und nun sind Sie dran!

 

Author: © Rabbiner Lord Jonathan Sacks | Übersetzung: Freyda Mensching

Fotos: © Büro von Lord Sacks