In früheren Zeiten pflegten in gewissen Gemeinden die geistigen Führer an Fasttagen nach dem Mincha-Gebet einen Vortrag zu halten. Der Zweck war, in erster Linie die Zuhörer zu veranlassen, Tschuwa zu tun (reuige Umkehr zu zeigen). Der Baal Schem Tov, der Begründer des Chassidismus, pflegte zu betonen, dass „Haschgacha Pratit“ (die G-ttliche Vorsehung) alles in der Welt beherrscht und kontrolliert. Daher ist es möglich (in der Tat es ist nötig) aus allem, das wir erleben, eine Lehre bezüglich unserer Verpflichtung G-tt gegenüber zu entnehmen. Dieser Grundsatz hat ganz besondere Gültigkeit für die vier Fasttage im jüdischen Jahre, die auf die Zerstörung Jerusalems Bezug nehmen.

Die vier Fasttage haben eines gemeinsam: Sie lehren uns, dass unser Exil durch die Versündigung des jüdischen Volkes herbeigeführt worden ist; und daraus folgt, dass das Exil enden wird, wenn das jüdische Volk, insgesamt Tschuwa getan hat. Außerdem jedoch gibt es für jeden einzelnen Fasttag eine mehr spezifische Lehre, entsprechend den besonderen Dingen, die sich an diesem Tage ereignet haben.

Der 10. Tewet nun erinnert daran, dass zu diesem Datum die Belagerung Jerusalems durch den babylonischen König Nebuchadnezar begann. Wo der Prophet Ezekiel diese Belagerung beschreibt, bedient er sich dabei des hebräischen Vers „samach“ (Ezekiel 24, 2), mit der Bedeutung von „belagern“. Anderswo jedoch, und im Allgemeinen, hat dieses Wort „samach“ die mehr positive Bedeutung von „stützen“ oder „unterstützen“. Die Frage stellt sich sofort, warum hier der Prophet mit diesem gleichen Wort die Belagerung illustriert.

Die Antwort darauf stützt sich auf den elementaren jüdischen Lehrsatz, dass alles auf dieser Welt, auch das Unerwünscht und das „Böse“, einen ersten Ursprung in etwas Positiven hat, in der Sphäre des Geweihten und Geheiligten. Diese Dinge machen, sozusagen, einen Prozess von „Verschleierungen“ und „Verkrampfungen“ durch; und danach sehen sie wie etwas Unheiliges und Ungeweihtes aus. Folglich war auch die Belagerung Jerusalems, ursprünglich und anfänglich, eine positive Handlung; und hätten die Juden richtig reagiert, dann wäre jener positive Aspekt bestehen geblieben. Das jüdische Volk aber nahm die gebotene Gelegenheit nicht wahr, und seine falsche Reaktion war erst Grund und Anlass für das schließlich negative Ergebnis. Genau um dies zum Ausdruck zu bringen, wendet Ezekiel das Wort „samach“ an, als Zeichen dessen, dass auch eine ursprünglich gute Absicht in etwas Schlechtes umgewandelt werden kann.

Ein anderes Ereignis aus der jüdischen Geschichte kann als eine Illustration hierfür dienen: Nebuchadnezar war bekanntlich nicht der erste Feind, der Jerusalem belagerte. Viele Jahre vor ihm hatte schon Sancherib, der König Assyrien, die Stadt umzingelt. Tatsächlich stellten die Armeen Sancheribs eine weit größere Gefahr für Jerusalem dar als diejenigen unter Nebuchadnezar später. Sancherib verfügte über viel mehr Soldaten (185.000), und die Juden waren schlechter für einen effektiven Widerstand gerüstet. Bibelkommentare betonen, dass Snacherib Jerusalem in einem Tage hätte erobern können, wenn er nicht mit seinem Heere einen Tag unterwegs Halt gemacht hätte. Bei Nebuchadnezar dagegen dauerte es mehrere Jahre, bis er eine lange hingezogene Belagerung erfolgreich zum Abschluss bringen konnte.

Indessen: Warum schlug Sancherib Versuch fehl, trotz seiner großen Übermacht? Die Antwort ist bekannt: In einer einzigen Nacht ließ G-tt ein Wunder geschehen, das assyrische Lager wurde in wilde Flucht geschlagen, das jüdische Volk konnte einen gewaltigen Sieg feiern – und zwar deshalb, weil es spirituell dazu gerüstet war. Hätte zu Nebuchadnezars Zeit das jüdische Volk sich ähnlich verhalten und würdig erwiesen, dann wäre auch hier da Negative (der Angriff) wieder in etwas Positives (Sieg der Juden) umgeformt worden. Dies geschah nicht – und deshalb fasten wir.

Und doch ist das Wort hier: „samach“ – „stützen“. Das Potential bleibt weiter bestehen; es ist ein positives, wenn wir es nur ergreifen.