Gedanken zu Schawuot

Rabbiner Dr. Gábor Lengyel | Foto: © Armin Levy
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Von Rabbiner Dr. Gábor Lengyel

 

Eines der großen Beispiele für progressives jüdisches Denken betrifft das Schawuot-Fest. Warum er das so sieht und welche Relevanz die Weiterentwicklung von jüdischen Traditionen mit Bezügen zur Gegenwart für ihn hat, teilt Rabbiner Dr. Gábor Lengyel in seinem Beitrag mit uns.

In der Tora war Schawuot ein landwirtschaftlicher Feiertag, ein Fest sowohl der ersten Sommerfrüchte als auch der Gerstenernte. Unsere genialen rabbinischen Weisen reformierten das Fest zu dem Jahrestag, an dem unsere biblischen Vorfahren die Tora auf dem Berg Sinai empfingen. Wir können uns nicht sicher sein, wie genau es passiert ist, aber ich stelle mir ein Szenario in etwa so vor:

Eine Gruppe besorgter Rabbiner diskutierte über den Zustand des jüdischen Lebens, ähnlich wie es die Teilnehmer von Konferenzen des Zentralrats der Juden in Deutschland tun.

Ein Weiser sinnierte: „Weißt du, Schawuot zieht einfach nicht mehr die großen Menschenmassen an, um in Jerusalem zu feiern, wie es früher der Fall war.“

Ein zweiter Rabbi antwortete: „Das ist wahr, aber es ist verständlich. Die Zeiten haben sich geändert!“

Ein dritter Teilnehmer: „Sie haben vollkommen recht! Als wir noch in erster Linie eine Agrargesellschaft waren, waren die ersten Früchte und die Gerstenernte zwingende Gründe zum Feiern. Jetzt, wo wir urbaner geworden sind, bedeuten diese Anlässe vielen Menschen nicht mehr so viel.“

Erster Weiser: „Was können wir tun?“

Ein vierter Teilnehmer meldete sich zu Wort: „Ich hab’s! Wenn man sich die Tora anschaut, kommt Schawuot 50 Tage nach dem ersten Tag von Pessach. Das ist ungefähr die gleiche Zeit, die unsere Vorfahren brauchten, um zum Berg Sinai zu wandern, nachdem sie aus Mizraim gegangen waren! Auch wenn die Tora die Verbindung nicht explizit herstellt, können wir daraus schließen und von nun an Schawuot feiern – ohne seine biblischen Wurzeln zu verleugnen – und zwar als eine freudige Feier des Zeitpunkts, an dem wir die Tora empfangen haben.

Ein fünfter Weiser fragt: „Können wir das tun?“

Der vierte antwortet: „Wir können nicht nur, wir müssen!! Wenn wir wollen, dass unser kostbares jüdisches Erbe Bestand hat, müssen wir geschickte Interpreten biblischer Texte sein, damit sie die gegenwärtigen und zukünftigen Realitäten unseres Volkes sinnvoll ansprechen.“

Auf diese Weise, so kann ich es mir leicht vorstellen, nahmen die Rabbiner der talmudischen Periode ein verblassendes Fest und gaben ihm eine historische Grundlage und neues Leben für zukünftige Generationen.

Dieses Beispiel, was unsere alten Weisen mit Schawuot entwickelt haben – und es gibt noch viele andere – sollte unser progressives jüdisches Denken auch heute noch inspirieren. Wenn wir wollen, dass unser wertvolles Erbe lebendig und relevant bleibt, müssen wir im Reformjudentum immer bestrebt sein, Gelegenheiten zu ergreifen, um unsere Traditionen und Feste für unsere Kinder und Enkelkinder bedeutungsvoller zu machen!

Wenn wir das tun, sollten wir uns darüber freuen, dass der Prozess der kontinuierlichen „Erneuerung“ des Judentums völlig konsistent ist – und nicht im Widerspruch steht mit dem Prozess, durch den unsere rabbinischen Weisen es dem Judentum ermöglichten, zu den Realitäten ihrer Zeit und ihres Ortes zu sprechen.